In Nicaragua protestieren seit März 2018 hunderttausende Menschen gegen das undemokratische, klientelistische Regime von Daniel Ortega. Dieses reagiert mit brutaler Repression und versucht seither vergebens, die Proteste zu ersticken. Da die Regierung nach wie vor von sich behauptet, links zu sein, und sich auf das Erbe der sandinistischen Revolution von 1979 stützt, sträuben sich weltweit viele Linke, Position zu beziehen. Deshalb veröffentlichen wir hier eine internationale Solidaritätserklärung, welche die staatliche Gewalt verurteilt und den Rücktritt der Regierung fordert. Wir danken der Redaktion von sozialismus.ch für die Übersetzung, in der Zeitschrift Viento Sur findet sich die Version auf Spanisch mit einer bereits langen Liste an Unterstützenden.
19. Juli 2018 (Jahrestag der sandinistischen Revolution vom 19. Juli 1979)
Mit diesem Dokument möchten wir als Intellektuelle, soziale Aktivist*innen und Akademiker*innen die in Nicaragua vom Staat ausgeübte politische Gewalt und die begangenen Menschenrechtsverletzungen nachdrücklich verurteilen. Diese Verstösse liegen in der Verantwortung des derzeitigen Ortega-Murillo-Regimes [Präsident und Vizepräsidentin] und haben in den letzten drei Monaten etwa 300 Todesopfer gefordert.
Die Empörung, der Schmerz, das Gefühl der historischen Frustration sind umso stärker, als eine solche politische Verirrung das Ergebnis des Handelns von Anführern und einer Regierung ist, die behaupten, links zu sein. Was ist schmerzhafter als die Ironie eines Führers, der behauptet, ein Revolutionär zu sein, wenn er die kriminellen Praktiken des Diktators [Anastasio Somoza] reproduziert, gegen den er sich in der Vergangenheit erhoben hat? Die Empörung ist aufgrund des mitschuldigen Schweigens von prominenten (selbst-)proklamierten politischen Führern und linken Intellektuellen – trotz der staatlichen Gewaltorgie – noch stärker. Das Einverständnis eines bestimmten intellektuellen Establishments – einer „offiziellen Linken „[d.h. Regierungslinke], die daran gewöhnt ist, die alleinige Repräsentantin der Linken zu sein – hat sich in der Hitze der Regierungsmacht in einen ausgesprochenen Ersatz für Zynismus verwandelt.
Diese ebenso schmerzhafte wie unannehmbare Situation anzuprangern, unsere Stimme gegen die Verletzung der elementarsten Freiheiten und Rechte durch die gegenwärtige nicaraguanische Regierung zu erheben, ist nicht nur eine Pflicht der humanitären Solidarität. Es ist auch ein Akt und ein kollektiver Appell zur Verteidigung des revolutionären Gedächtnisses; ein Versuch, das tragische Ergebnis der anhaltenden politischen Degeneration zu vermeiden.
Es gibt keinen schlimmeren Diebstahl als den der politischen Hoffnung der Menschen.
Es gibt keine schlimmere Plünderung als die, die darauf abzielt, die rebellischen Energien eines Kampfes für eine gerechtere Welt zu rauben.
Es gibt keinen schlechteren Imperialismus als einen internen Kolonialismus, der sich in gewalttätige Unterdrückung verwandelt, welche in antiimperialer Rhetorik versteckt ist.
All dies geschieht in Nicaragua. Das Land, das Ende der 1970er Jahre das fruchtbare Symbol der emanzipatorischen Hoffnung war, hat sich in ein neues Terrain des Autoritarismus verwandelt.
Die Erinnerung an eine der edelsten und hoffnungsvollsten Revolutionen von Nuestra América [Anspielung auf den berühmten Text von José Marti], wie auch die Revolution von Sandino [1895-1934], wird durch die Regierung beschmutzt; ebenso wie die Erinnerung an die antikapitalistischen Kämpfe eines unter Gewalt leidenden, aber trotzdem mutigen Volkes, das heute einmal mehr mit Füßen getreten wird, weil das diktatorische Regime dadurch versucht, die alltägliche Gewalt zu verstecken, die für solche Regimes charakteristisch ist […]. Der ehemalige Revolutionsführer, geehrt durch das Vertrauen seines Volkes, hat sich nun in einen Diktator verwandelt, der durch die Macht blind geworden ist und dessen Hände mit dem Blut der Jugend bedeckt sind. Das ist der schrecklich bittere Zustand unseres lieben Nicaragua.
Wir erheben unsere Stimme, um die Diktatur, in die die Regierung Ortega-Murillo verwandelt wurde, öffentlich zu verurteilen. Wir bekunden unsere Solidarität mit den Menschen und Jugendlichen, die sich heute einmal mehr erhoben haben und Widerstand leisten. Wir unterstützen ihre Forderungen nach Dialog und Frieden und fordern ein Ende der illegitimen und kriminellen Regierung, die sich heute die Erinnerung der Sandinist*innen aneignet. Wir tun dies in der Überzeugung, dass es nicht nur um die «Rettung der Ehre» der Vergangenheit geht, sondern vor allem um die Sicherung und Pflege der heute bedrohten emanzipatorischen Keime.
Unterschriften bitte an folgende Adressen senden: declaracionurgentepornicaragua@gmail.com
Einige Persönlichkeiten, die den Aufruf unterstützen:
Alberto Acosta (Ökonom, Ecuador)
Raúl Zibechi (Schriftsteller, Uruguay)
Hugo Blanco (Aktivist, Direktor von «Lucha indígena», Peru)
Joan Martinez Alier (Herausgeber der Zeitschrift «Ecología política», Spanien)
Pierre Salama (Ökonom, Frankreich)
Edgardo Lander (Soziologe, Venezuela)
Boaventura de Sousa Santos (Anwalt, Soziologe, Portugal)
Jaime Pastor (Herausgeber der Zeitschrift «Viento Sur», Spanien)
Ricardo Napurí (sozialistischer Aktivist, Argentinien)
Nora Ciapponi (sozialistische Aktivistin, Argentinien)
Aldo Casas (Aktivist, Herausgeber der Zeitschrift «Herramienta», Argentinien)
Erschienen am 17./18. Juli 2018 auf Viento Sur und alencontre.org; Übersetzung durch die Redaktion von sozialismus.ch.
„Nicaraguas Regierung ist grob und grausam“
Die Regierung von Daniel Ortega müsse der Gewalt abschwören und vorzeitigen Wahlen zustimmen, um die Krise im Land zu beenden, fordert die nicaraguanische Schriftstellerin Gioconda Belli* im Gespräch.
aus Deutsche Welle, 11.072018
Cristina Papaleo: Frau Belli, Sie waren Teil des Kampfes für die Sandinistische Revolution in Nicaragua und Sie haben mit Daniel Ortega und Rosario Murillo zusammengearbeitet. Was ist Ihrer Meinung nach aus den idealen der Revolution in Nicaragua geworden?
Gioconda Belli: Wir befinden uns in Nicaragua in einer schwierigen Zeit. Wir haben noch nie in der Geschichte unseres Landes eine derartige Repression gegen ein unbewaffnetes Volk gesehen und das entspricht wirklich nicht den Idealen der sandinistischen Revolution. Daniel Ortega hat das Erbe dieser Revolution längst zerstört und schreibt nun das dunkelste Kapitel in der Geschichte der Sandinistischen Befreiungsfront.
Obwohl der Auslöser für die Proteste eine Rentenreform war, geht die Unzufriedenheit in der Bevölkerung weit darüber hinaus. Was wollen die Nicaraguaner Ihrer Meinung nach?
Das nicaraguanische Volk will seine Freiheit, seine Demokratie und vor allem sein Recht auf eine echte Wahl zurück. Denn in den vergangenen elf Jahren haben wir nach und nach die Unabhängigkeit der Staatsgewalt verloren. Eine Wahl war ohne Betrug und Manipulation nicht möglich. Die Regierung begeht schreckliche Verbrechen gegen die Bevölkerung und beschuldigt sie zur selben Zeit, ihr Unglück selbst verursacht zu haben. So etwas hat selbst Diktator Anastasio Somoza nicht getan, denn wir waren damals eine Guerilla-Armee, und Ortega greift heute die unbewaffnete Bevölkerung an.
Gibt es in dieser für Nicaragua so kritischen Zeit soziale Bewegungen, die einen demokratischen Wandel im Land fördern könnten?
In diesem Land gibt es Menschen mit großen politischen und intellektuellen Fähigkeiten, die alle von Ortega verdrängt wurden. Stattdessen wurden Witzfiguren mit Ministerien betraut, die nicht mal das Recht haben, eigenständig mit Journalisten zu sprechen. Die Menschen organisieren sich nun auf außergewöhnliche Weise. Es gibt keine Hierarchie, aber die Strukturen entstehen aus den Menschen heraus. Am Runden Tisch des Nationalen Dialogs entstand zum Beispiel die Bürgerallianz für Demokratie und Gerechtigkeit. Es gibt viele andere zivilgesellschaftliche Gruppen und Bewegungen, die zusammenkommen und nach Lösungen für das Land suchen. Allen gemein ist die Forderung, dass Ortega zurücktritt.
1974 unterzeichnete die sogenannte „Gruppe der 27“, zu der Sie zusammen mit Ernesto Cardenal und anderen nicaraguanischen Intellektuellen gehörten, ein Manifest, das den Machtmissbrauch durch Anastasio Somoza anprangerte. 2016 wurde das Manifest wiederbelebt, nur um diesmal dieselbe Situation unter der Regierung Ortega anzuprangern. Was denken nicaraguanische intellektuelle über die aktuelle Krise?
Als Präsidentin des PEN Nicaragua möchte ich ausdrücklich die unzähligen Angriffe gegen die Presse verurteilen. Am Montag (09.07.), als in Jinotepe Bischöfe attackiert wurden, griffen die paramilitärischen Kräfte der Regierung auch die begleitenden Journalisten an, schlugen sie und zerstörten ihre Kameras. Die Presse hat schon sehr viele Angriffe und Verletzungen der Menschenrechte erlitten. Einem Journalisten wurde bei seiner Arbeit in den Kopf geschossen. Sein Name war Angel Gaona und es ist alles auf Filmaufnahmen dokumentiert. Ein anderer Journalist wurde am ersten Tag der Proteste bewusstlos geschlagen und hat sich bis heute noch nicht davon erholt. Wir müssen diese Angriffe auf die Presse unseres Landes anprangern.
Glauben Sie, dass die Opposition mit ihren Protesten Ortega dazu bringen kann, entweder zurückzutreten oder die Wahlen vorzuziehen?
Ich weiß nicht, ob wir Ortega dazu bringen werden zu gehen oder vorgezogene Wahlen zu verkünden. Wir werden in die Enge getrieben, sind allein und wehrlos in diesem Land, in dem sich die Regierung mit aller Kraft und Gewalt an der Macht hält. Wir haben einen Präsidenten, der seit elf Jahren keine einzige Pressekonferenz gegeben hat. Sie sagen, sie wollen Frieden, aber sie töten stattdessen. Ich denke, es gibt eine große Ablehnung in der Bevölkerung gegen diese Regierung und eine feste Überzeugung, den Kampf fortzusetzen. Ich weiß nicht, wann diese Regierung abtreten wird, aber ich bin davon überzeugt, dass es passieren wird.
Sollte dies nicht geschehen, wie sehen Sie die Zukunft Nicaraguas und was sollte die internationale Gemeinschaft Ihrer Meinung nach tun, um zur friedlichen Lösung der Krise beizutragen?
Sollte Daniel Ortega nicht gehen wollen, wird die Situation meiner Ansicht nach sehr gefährlich, da ich glaube, dass diese Regierung sehr rachsüchtig ist und ihre außerordentliche Fähigkeit zur Unterdrückung und Intoleranz bereits bewiesen hat. Ihre Macht wird vom Volk hinterfragt, doch die Antwort der Regierung ist grob, überheblich und grausam. Ich denke, dass das Volk noch viel Leid wird ertragen müssen. Was einen friedlichen Ausweg für Nicaragua angeht: Wir hatten einen runden Tisch des Dialogs vorgeschlagen, der alle zivilgesellschaftlichen Akteure einschloss. Der einzige friedliche Ausweg aus dieser Krise wäre, dass Ortega die Gewalt stoppt, sich dialogbereit erklärt und vorgezogene Wahlen akzeptiert. Aber der Dialog ist ins Stocken geraten, weil Ortega glaubt, durch Gewalt und Unterdrückung die Kontrolle über das Land wiedererlangen zu können. Die Regierung hat versucht, die Gesprächsrunde als Plattform für ihre Propaganda zu missbrauchen und um zu behaupten, dass in Wirklichkeit sie selbst die Angegriffenen sind. Das ist ein Grad an Zynismus, der jenseits aller Vorstellungskraft liegt, einschließlich meiner eigenen als Schriftstellerin. Ich habe noch nie so einen schamlosen Zynismus erlebt. Wir hoffen nur, dass sie nicht ihre eigenen Lügen glauben, denn die Wahrheit ist, dass sie alleine und isoliert sind in diesem Land. Ihre Anhängerschaft ist klein. Aber gerade weil wir unbewaffnet sind, muss die internationale Gemeinschaft Anstrengungen unternehmen, und uns zu unterstützen. Andernfalls könnten wir hier einen Völkermord erleben, ein Massaker ohne Gleichen in Lateinamerika.
*Die nicaraguanische Schriftstellerin Gioconda Belli ist eine der bekanntesten Autorinnen Lateinamerikas. Die Dichterin und Romanautorin ist eine ehemalige Mitstreiterin der sandinistischen Revolution und hat wie keine andere in ihren Romanen die Entwicklung der revolutionären Ideale Nicaraguas, insbesondere aus den Augen der Frauen, nachgezeichnet.