Gestern 1. Dezember haben abermals viele Tausend Menschen in Frankreich gegen Präsident Macron und die Regierung demonstriert. Sie verlangen eine Senkung der indirekten Steuern auf Diesel und Lohnerhöhungen. Gemäß Meinungsumfragen sollen 53% der Bevölkerung die Bewegung der Gelbwesten (gilets jaunes) unterstützen, weitere 31% verstehen die Bewegung ohne sie selber zu unterstützen (Liberation vom 1. Dezember 2018). Die Bewegung ist also zu einer regelrechten Revolte angewachsen, die wirklich gefährlich für die Regierung werden kann. Die Medien in den deutschsprachigen Ländern berichten kaum über diese Bewegung. Darum publizieren wir hier den Hintergrundbeitrag von Léon Crémieux, der in der Neuen Antikapitalistischen Partei aktiv ist (Red. Aufbruch).
Am 17. November 2018 wurden nach Angaben der Polizei in Frankreich mindestens 2500 Strassenkreuzungen und Mautstellen blockiert. An diesen Aktionen beteiligten sich mindestens 300’000 Menschen mit «gelben Westen», jenen Leuchtwesten, die in Autos vorgeschrieben sind. In der folgenden Woche blieben viele Blockaden rund um kleinere Städte und in ländlichen Gebieten bestehen. Am vergangenen Samstag, dem 24. November, fanden wieder Aktionen mit mehr als 100’000 Teilnehmenden statt, darunter mindestens 8’000 Personen auf den Champs Elysées in Paris und 1’600 Strassenblockaden in ganz Frankreich.
von Léon Crémieux*
2. Dezember 2018
(aus alencontre.org, 26. November, deutsche Fassung übernommen aus sozialismus.ch, 27. November 2018)
Die Bewegung der „Gillets Jaunes“ wurde nicht von einer Partei oder einer Gewerkschaft initiiert. Sie wurde vollständig mithilfe sozialer Netzwerke aufgebaut. Ihr Anliegen ist die Ablehnung einer erneuten Erhöhung der Steuer auf Treibstoffe mittels der ab dem 1. Januar 2019 in Kraft tretenden TICPE (Inlandsverbrauchssteuer auf Energieerzeugnisse). Folgende Erhöhungen sind geplant: +6,5 Cent pro Liter Diesel und +2,9 Cent pro Liter Benzin. Schon 2018 stieg die Dieselsteuer um 7,6 Cent. Für jeden Liter Diesel, der aktuell ca. 1,45 Euro kostet, erhebt der Staat derzeit rund 60% Steuern, was 85,4 Cent entspricht. In den Jahren 2020 und 2021 plant die Regierung eine weitere Erhöhung um 6,5 Cent pro Jahr. Dies ergibt nach Grossbritannien und Italien die höchste Dieselsteuer in Europa. Aber in Frankreich ist der Dieselverbrauch im Gegensatz zu den meisten anderen europäischen Ländern sehr hoch und macht 80% des Treibstoffverbrauchs aus. Der Preis für Diesel ist im vergangenen Jahr um 23% gestiegen.
Eine Online-Petition gegen diese Steuererhöhungen, über die in der führenden populären Tageszeitung des Landes, Le Parisien, berichtet wurde, sammelte Mitte Oktober Hunderttausende von Unterschriften. Die Zahl der Unterschriften stieg bis Anfang November auf über eine Million. Danach wurden hunderte Facebook-Gruppen im ganzen Land eingerichtet und Videos gegen die Steuer millionenfach im Internet angesehen (darunter eines, das von einem lokalen Vertreter der rechtsextremen Gruppe Debout la France gemacht wurde). Schliesslich rief ein LKW-Fahrer für den 17. November dazu auf, die Pariser Ringstrasse zu blockieren. Von da an wurde der 17. das Datum für Tausende von lokalen Initiativen. Eine von zwei Personen betriebene Internetplattform, sammelte diese dezentralen Aktionen und machte sie sichtbar.
Welche Art von Bewegung?
Diese Bewegung hat die Regierung, aber auch Gewerkschaftsaktivist*innen und die politischen Führungen hart getroffen! Der Kontrast war auffallend stark zwischen der breiten Unterstützung der Aktionen durch die Arbeiter*innenklasse und die gesamte Bevölkerung (70% Unterstützung am Vorabend des 17. November) einerseits und andererseits der Verurteilung durch linke Kreise, die dahinter nur die Manipulation durch Arbeitgeber und Rechte witterten. In Wahrheit aber haben alle Arbeitgeberverbände des Transportsektors die Blockaden verurteilt und die Regierung aufgefordert, die Blockaden zu beseitigen. Was die extreme Rechte betrifft, so trifft es zu, dass Nicolas Dupont Aignan, Führer der Debout la France-Bewegung, seit Mitte Oktober Stimmung macht und seine gelbe Weste in den Medien zeigt. Auch die Partei Rassemblement National von Marine Le Pen [vormals Front National] sprach ihre Unterstützung aus, während sie aber die Strassenblockaden kritisierte. Die meisten Organisator*innen der «Gelben Westen» wollten deutlich ihre Distanz zu dieser unangenehmen politischen Unterstützung markieren. Diskret drückten die Republikaner und die Sozialdemokratische Partei ihr Mitgefühl mit der Bewegung aus. Während die Führer von France Insoumise sowie Olivier Besancenot von der Nouveau Parti Anticapitaliste (NPA) in mehreren Fernsehinterventionen ihre Unterstützung für die Bewegung bekundeten, weigerten sich alle großen Gewerkschaftsorganisationen, auch die radikaleren unter ihnen (CGT und Solidaires), die Demonstrationen zu unterstützen.
Die Realität ist, dass die Bewegung der «Gelben Westen» eine tiefe Unzufriedenheit in der Arbeiter*innenklasse widerspiegelt. Täglich gehen 17 Millionen Menschen außerhalb ihrer Wohngemeinde arbeiten, das heisst zwei Drittel der arbeitenden Bevölkerung. Von diesen zwei Dritteln nutzen 80% ihr persönliches Fahrzeug.
Die Sorge um die Treibstoffkosten ist daher in der Grossregion Paris und insbesondere in den ländlichen Regionen ein zentrales Anliegen breiter Schichten (selbst in der Region Paris nutzt nur jede*r zweite Arbeiter*in die öffentlichen Verkehrsmittel, um zur Arbeit zu gelangen).
Die Frage der Steuererhöhung betrifft daher die überwiegende Mehrheit der Lohnabhängigen!
Lohnabhängige und insbesondere Familien sind gezwungen, immer weiter von den städtischen Zentren entfernt zu leben. Die Prekarisierung erhöht die Entfernung vom Arbeitsplatz. In der Region Paris sind 50% der Lohnabhängigen, die mit dem Auto zur Arbeit fahren, gezwungen, am Stadtrand zu leben oder gestaffelte Arbeitszeiten anzunehmen.
Die Kosten für den Autoverkehr, insbesondere für Diesel, sind in einer Zeit explodiert, in der die Inflationsrate als Vorwand diente, um die Löhne nicht zu erhöhen. Die «Gelben Westen» drücken eine weit verbreitete Verärgerung aus. Diese hat einen deutlichen Klassencharakter in Bezug auf Kaufkraft, Löhne und Renten.
Aber diese Verärgerung drückt auch die weit verbreitete Wut und Diskreditierung der Regierung aus, die zahlreiche Angriffe auf die Kaufkraft und die Renten führt und gleichzeitig den Kapitalisten grosszügige Geschenke macht. Diese Diskreditierung spiegelt sich auch in der Krise jener politischen Parteien wider, die das Land geführt haben und für die gegenwärtige soziale Situation verantwortlich sind. Bei seiner Wahl im Jahr 2017 hatte Macron von dieser Diskreditierung noch profitiert. Nun erlebt er einen Bumerang-Effekt.
Dank der Steuerreformen der Regierung – der Abschaffung der Vermögenssteuer sowie der Abgeltungssteuer auf Kapitaleinkünfte – werden die reichsten 1% ihre Einkommen 2019 um 6% erhöhen, die reichsten 0,4% ihre Kaufkraft um 28.300 €, die reichsten 0,1% um 86.290 € im Jahr. In der Zwischenzeit werden die ärmsten 20% ihre Einkommen sinken sehen, ohne dass die Sozialleistungen steigen.
Unbeliebtheit und Regierungskrise
Von einem sehr grossen Teil der Bevölkerung wird Macron als Präsident der Reichen, der sehr Reichen, wahrgenommen. Die Erhöhung der Treibstoffsteuern wurde als der Tropfen erlebt, der das Fass zum Überlaufen brachte. Zudem beschleunigt sich die Krise der Regierung Macron aufgrund ihrer Klassenpolitik und ihrem Vertrauensverlust seit dem Sommer 2018.
Der Fall Benalla war der Sommerskandal. Alexandre Benalla, Macrons persönlicher Sicherheitsbeauftragter, der am 1. Mai wegen Angriffen auf Demonstrant*innen verurteilt wurde, war der Enthüller von Praktiken des Präsidenten, bei denen staatliche Dienste für dessen persönliche Bedürfnisse mit Sonderrechten für seine Mitarbeiter benutzt wurden. In der Zwischenzeit ist auch Gérard Collomb, Innenminister und Stütze des Präsidenten der ersten Stunde, Anfang Herbst zurückgetreten. Diese aufeinanderfolgenden internen Krisen zeugen von der beschleunigten Abnutzung dieser Regierung und der Schwäche ihrer politischen und sozialen Basis.
Alle Umfragen zeigen, dass Macron nach einer identischen Amtszeit weniger beliebt ist als François Hollande.
Die Forderungen der Gelben Westen
In allen Botschaften der Gelben Westen in den sozialen Netzwerken und bei den Blockaden, gab es eine Mischung aus der Forderung nach dem Rückzug der Erhöhung der Treibstoffsteuern, aber darüber hinaus die Forderung nach der Wiederherstellung der Vermögenssteuer – und oft einfach Macrons Rücktritt.
Um die Erhöhung der Treibstoffsteuer zu rechtfertigen und Unterstützung in der Bevölkerung zu erhalten, erwähnte die Regierung die Notwendigkeit, die globale Klimaerwärmung zu bekämpfen und gleichzeitig gegen Treibhausgasemissionen und Feinstaub anzugehen. Der Regierungssprecher Benjamin Grivaux dachte, er gewänne Unterstützung der linken Umweltschützer*innen, indem er «diejenigen anprangerte, die Zigaretten rauchen und mit Diesel fahren». Aber auch bei den grünen Wähler*innen stiess die Steuererhöhung nicht auf eine positive Resonanz und die verächtliche Arroganz der Regierung verfehlte ihr Ziel.
Der wesentliche Grund dafür ist, dass sich die gesamte Politik der Regierung nicht um die anstehenden ökologischen Herausforderungen schert: Nachdem sie Geländewagen und Dieselfahrzeuge bevorzugt hat, wird für die Entwicklung des öffentlichen Verkehrs in ländlichen Gebieten und am Rande von Grossstädten nichts getan, während die Arbeiter*innenklasse immer grössere Entfernungen zu ihren Arbeitsplätzen und den Stadtzentren in Kauf nehmen muss. Seitens der Regierung gibt es eine unerträgliche Arroganz, immer mehr von den Menschen zu verlangen, die nicht in der Lage sind, ihre Fortbewegungsart oder ihr Fahrzeug zu wechseln!
Mit den Angriffen auf die SNCF plant die Regierung, mehr als 11.000 Kilometer Bahnstrecken stillzulegen, während der Schienengüterverkehr weitgehend zugunsten der Strasse geopfert wurde. Gleichzeitig ist der Öl-Konzern Total von jeglichen Steuerabgaben befreit und kann die Suche nach neuen fossilen Lagerstätten unbehindert fortsetzen. Darüber hinaus haben die Debatten über das Finanzgesetz 2019 gezeigt, dass mehr als 500 Millionen Mehreinnahmen durch die Treibstoffsteuer nicht für den ökologischen Umbau, sondern zur Deckung des Defizits im Staatshaushalt 2019 verwendet werden, um die Abschaffung der Vermögenssteuer auszugleichen.
Wochenlang versuchten Regierung und Medien, die Bewegung mit herablassender Verachtung lächerlich zu machen, um sie als eine «Jacquery» unkultivierter, des Klimawandels unbewusster Menschen darzustellen (siehe dazu die Analyse von Gérard Noiriel, auf französisch).
Was ist mit der organisierten Arbeiter*innenbewegung?
Die Arbeiter*innenbewegung und ihre Organisationen sind nicht der Ursprung dieser Bewegung der «Gelben Westen». Dies verdeutlicht sowohl deren Verlust an Einfluss in vielen Regionen als auch an Verankerung in der Arbeitswelt. Es ist auch, wie ATTAC- und Kopernikus-Verantwortliche in einem Artikel in Le Monde schreiben, das Ergebnis des kumulativen Versagens sozialer Bewegungen in den letzten Jahren. Die Bereitschaft zur Blockade, zum direkten Handeln ergibt sich auch aus der Ablehnung traditioneller Demonstrationsformen, steht aber im Einklang mit den Blockademassnahmen, die in den letzten Jahren von den kämpferischen sozialen Sektoren durchgeführt wurden.
Darüber hinaus sind die von den Gewerkschaftsführer*innen praktizierte Politik und die Schwäche der Verankerung einer solchen Volksbewegung problematisch. Die Gewerkschaftsführung hat die Manöver der extremen Rechten oder den Wunsch nach «Apolitismus» der gelben Westen als Vorwand genommen, sich nicht daran zu beteiligen. Aber wie ATTAC und Kopernikus in demselben Artikel in Le Monde schreiben: «Wir werden dieses Misstrauen, die Instrumentalisierung durch die extreme Rechte, das Risiko des Anti-Fiskalismus nicht mit einer Nichtbeteiligung und einer Beschuldigung der Demonstranten bekämpfen. Im Gegenteil, es geht darum, sich selbst die Mittel zu geben, um darin Einfluss zu gewinnen und den kulturellen und politischen Kampf innerhalb dieser Bewegung gegen die extreme Rechte und die Kräfte der Unternehmer, die sie unterwerfen wollen, zu gewinnen.»
Viele Gewerkschaftsstrukturen und Aktivist*innen zögerten ihrerseits nicht, die Aktionen der Gelben Westen zu unterstützen und zur Beteiligung an deren Aktionen aufzurufen: Dies trifft vor allem für CGT métallurgie, Sud industrie und FO Transports zu, in mehreren Departements wurden Einheitsaufrufe lanciert mit einer einheitlichen Forderungsplattform für Lohnerhöhungen, gegen die indirekten Steuern, die auf der Arbeiter*innenklasse lasten und für progressive Einkommenssteuern. Häufig werden auch Kraftstoffsteuern als solche abgelehnt und die Notwendigkeit einer echten Umweltpolitik betont, die den Öl-Konzern Total treffen und den öffentlichen Verkehr und den Schienengüterverkehr im Gegensatz zum Strassenverkehr bevorzugen würde.
In aktivistischen Netzwerken, wie auch in der Presse, zeugen alle Berichte von der Popularität dieser Bewegung, die sich im Wesentlichen aus Lohnabhängigen, Rentner*innen oder Kleinunternehmer*innen zusammensetzt, all denen, die mit ihrem niedrigen Einkommen von den Angriffen der Regierung hart getroffen werden. NPA-Aktivist*innen, die an den Blockaden oder sogar an der Verteilung von Broschüren teilgenommen haben, wurden wohlwollend aufgenommen und stimmen vor allem mit den Forderungen nach Wiedereinführung der Vermögenssteuer (ISF) und einer Beendigung der Steuergeschenke für die Reichsten überein.
Die Herausforderungen der Bewegung
Deshalb geht es in dieser Bewegung unabhängig von deren Fortsetzung um wichtige politische Fragen. Eine Herausforderung besteht darin, diese – ohne sie zu kontrollieren –, demokratisch zu strukturieren und mit den Organisationen der Arbeiter*innenbewegung zusammenzuführen, um einen gemeinsamen Kampf zu führen und die Konfrontation mit der Regierung gemeinsam zu suchen. Die Regierung hofft, dass die Gelben Westen lediglich ein störendes Zwischenspiel darstellen, bevor sie zu einem «normalen» politischen und sozialen Leben zurückkehren kann.
Nach dem 17. Juni hackten die Medien auf den Zusammenstössen, den Verwundeten an den Strassensperren und dem Tod einer „Gelben Weste“ herum, die von einem Autofahrer überfahren wurde. Sie legten den Finger auch auf einzelne rassistische und homophobe Vorfälle und zielten darauf ab, die gesamte Bewegung zu diskreditieren. Auch wenn sie vorsichtiger ist als bei den Demonstrationen der sozialen Bewegungen der letzten Jahre, ist die Regierung hart gegen die Blockaden der letzten Tage vorgegangen, insbesondere gegen die Demonstration auf den Champs-Elysées am vergangenen Samstag.
Viele Gelbe Westen, die nicht an Strassendemonstrationen und noch weniger an Zusammenstösse mit der Staatsgewalt gewöhnt sind, wurden von dieser Gewalt schockiert; dies jedoch kann die Entschlossenheit und die Bereitschaft zu neuen Blockaden nicht untergraben. Die Regierung hofft, dass die Bilder der Zusammenstösse und die bevorstehenden Weihnachtsfeiertage dieser Bewegung den Garaus machen werden. Sollte die Arbeiter*innenbewegung das Gleiche denken, wäre dies ein schwerer Fehler.
Auch wenn sie nur am Rande dabei ist, so wartet die extreme Rechte in dieser Bewegung nur darauf, dass keine antikapitalistische Perspektive entsteht, um ihr selbst eine Perspektive zu verschaffen. Die Episode der «Forconi» 2013 in Italien, mit den Gelben Westen vergleichbar, sollte vor allem Antikapitalist*innen alarmieren, die wollen, dass sich der Zorn der Bevölkerung und die soziale Verärgerung nicht nur gegen diese Regierung der Reichen wenden, sondern auch den Weg für eine antikapitalistische Offensive ebnen, die zur Befreiung führen kann.
*Léon Crémieux ist Aktivist der Nouveau Parti Anticapitaliste (NPA).
Übersetzt und geringfügig angepasst durch die Redaktion von sozialismus.ch.