Wir haben diesen Artikel aus dem Ada Magazin 29. November 2018, der deutschsprachigen Schwesterzeitschrift der US-amerikanischen Jacobin übernommen. Wir empfehlen beide Zeitschriften zur regelmäßigen Lektüre.
2. Dezember 2018
von Costas Lapavitsas und Stathis Kouvelakis
Die Regierung von Alexis Tsipras versprach ein Ende der Kürzungspolitik. Doch sie verteidigt die Banken gegen die Opfer von Zwangsversteigerungen und verfolgt alle, die sich dagegen auflehnen.
Innerhalb der internationalen Linken ist bei vielen der Eindruck entstanden, die Lage in Griechenland würde sich langsam zum Besseren wenden und mit der Syriza-Regierung sei weiterhin eine linke Kraft an der Macht, welche die Interessen von Arbeiterinnen und Armen unter schwierigen Bedingungen verteidige. Für alle, die solche Ansichten vertreten, gab es in letzter Zeit einige böse Überraschungen.
Die bittere Realität ist, dass Tsipras und seine Regierung – seit sie sich der Troika aus EU, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds unterworfen haben – die neoliberale Politik aller griechischer Regierungen seit dem ersten Schuldenpakt im Jahr 2010 fortgeführt haben.
»Der einzige Unterschied zu Vorgängerregierungen besteht darin, dass Tsipras und seine Partei im Januar 2015 die Wahlen mit dem Versprechen gewannen, genau diese Kürzungspolitikpolitik zu beenden«
Die Tsipras-Regierung hat öffentliche Ausgaben drastisch gekürzt, weiter dereguliert, Privatisierungen fortgesetzt, Löhne gedrückt, sowie Renten und Sozialleistungen gestrichen. Vor allem aber hat sie öffentliche Investitionen dramatisch zurückgefahren und direkte wie indirekte Steuern auf ein nie gekanntes Niveau angehoben. Alles Maßnahmen, die für Haushalte mit geringem bis mittlerem Einkommen brutale Einschnitte bedeuten.
Der einzige Unterschied zu Vorgängerregierungen besteht darin, dass Tsipras und seine Partei im Januar 2015 die Wahlen mit dem Versprechen gewannen, genau diese Kürzungspolitik zu beenden. Seine erstaunliche Volte im Sommer 2015 – nur Tage nach der Volksabstimmung, bei der sich die Wählerinnen mit 61 Prozent gegen weitere Kürzungsmaßnahmen aussprachen – bedeutete Schock und Trauma für die griechische Bevölkerung. In den drei Folgejahren demoralisierte der Zynismus der Tsipras-Regierung die ganze Gesellschaft. Passivität und Verzweiflung haben dazu geführt, dass die Regierung ohne großen Widerstand ein weiteres Kürzungspaket durchdrücken konnte.
So tut Syriza der Troika einen großen Gefallen. Doch Kürzungspolitik und Deregulierungen, die der Mehrheit der Bevölkerung großen Schaden zufügen, lassen sich nicht ohne ein gewisses Maß an Repression und Zwang durchsetzen. Es ist unmöglich, Kürzungen bei öffentlichen Dienstleistungen, Renten und Löhnen, Steuererhöhungen und ausbeuterische Arbeitsmarktregeln durchzusetzen, ohne die Opposition zu unterdrücken und ein Klima der Angst zu schaffen, worin diejenigen, die aufbegehren, mit Konsequenzen zu rechnen haben.
»Der alte Syriza-Slogan „Kein Haus den Banken“ ist vergessen«
Dies hat sich in den letzten Jahrzehnten in Westeuropa, aber auch in den USA und anderen Ländern immer wieder bestätigt. Auch von 2010 bis 2015 breiteten sich Repression und ein autoritärer Regierungsstil in Griechenland im immer weiter aus, während verschiedene Regierungen Kürzungspakete durchdrückten. Langsam, letztlich aber unaufhaltsam, hat sich auch die Tsipras-Regierung in eine solche autoritäre Richtung entwickelt.
Besonders sticht in den letzten Monaten der starke Anstieg von Zwangsversteigerungen und Wohnungsräumungen hervor, der aus der Schieflage des griechischen Bankenwesens resultiert. Der alte Syriza-Slogan „Kein Haus den Banken“ ist vergessen – heute verfolgt Syriza alle, die sich gegen die Versteigerungen wehren. Neue Gesetze drohen mit Gefängnisstrafen für das Stören von Auktionen und Verhaftungen von Regierungskritikerinnen finden auf dieser Basis bereits statt.
Die Schrauben enger ziehen
Um die politische Bedeutung des Kampfs um zwangsversteigerte Wohnungen zu verstehen, muss die gefährliche Lage für die griechischen Banken in Betracht gezogen werden, die zu großem Druck auf die Regierung und die ganze Gesellschaft führt. In der Tat ist die Sorge von einer erneuten Destabilisierung der Banken der Grund für die zunehmenden Repressalien.
Seit der Krise wird das griechische Bankenwesen von vier „systemischen“ Banken dominiert, welche über 90 Prozent der Spareinlagen und Sachwerte kontrollieren. Diese vier Banken sind seit 2010 die Hauptunterstützer der Kürzungspolitikpolitik und nutzen ihre enorme wirtschaftliche und gesellschaftliche Macht dazu, Griechenlands Regierungen und auch Syriza dazu zu zwingen, den Bedingungen der Kreditgeber nachzukommen, um einen Kollaps und eine mögliche Verstaatlichung des Bankenwesens zu verhindern.
»Seit 2016 hilft die Tsipras-Regierung brav dabei mit, Wohneigentum und andere Vermögenswerte der Griechinnen den Banken zuzuschieben und verkauft Pakete von „faulen” Krediten an räuberische Fonds«
Seit Beginn der Krise gab es zwei große Rekapitalisierung der Banken, eine davon unter Syriza. Sie kosteten mehr als 45 Milliarden Euro und waren vollständig durch öffentliche Kredite finanziert, also Kredite, für die die griechischen Steuerzahlerinnen einstehen. Trotz dieser außerordentlichen Hilfe durch die öffentliche Hand halten griechische Banken europaweit die meisten „faulen” Kredite und können die Wirtschaft nicht mehr mit neuem Kapital ausstatten. Unter diese „faulen“ Kredite fallen sogenannte Non-Performing Loans (NPLs), bei denen der Zahlungsrückstand bei den Zinsen mehr als neunzig Tage beträgt, aber auch sogenannten Non-Performing Equities (NPEs), eine breitere Kategorie, welche Kredite einschließt, bei denen nicht mit einer vollständigen Rückzahlung zu rechnen ist, obwohl formal noch kein Zahlungsrückstand eingetreten ist.
Das Risiko, welches von NPEs und NPLs für das griechische Bankenwesen ausgeht, steht seit Jahren ganz oben auf der Prioritätenliste der Europäischen Zentralbank. Seit 2016 hilft die Tsipras-Regierung brav dabei mit, Wohneigentum und andere Vermögenswerte der Griechinnen den Banken zuzuschieben und verkauft Pakete von „faulen” Krediten an räuberische Fonds. Zwangsversteigerungen spielen hierbei eine zentrale Rolle.
Die Unfähigkeit der Banken, ihre finanziellen Probleme in den Griff zu bekommen, sollte niemand überraschen. Sie steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Pakt zwischen Troika und Regierung. Im Wesentlichen wird von den Banken erwartet, ihre Bilanzen zu verbessern, indem sie faule Kredite verkaufen, Sicherheiten zwangsversteigern und beim Eintreiben von Schulden generell härter durchgreifen. Ein Prozess, der sich über mehrere Jahre hinziehen wird.
»Sollte sich die Gerüchte bewahrheiten, wäre dies vor den Wahlen im Jahr 2019 eine Katastrophe für die Regierung«
Zugleich sollen die Banken aber frisches Kapital für Investitionen in die griechische Wirtschaft zur Verfügung stellen. Natürlich lassen sich beide Vorgaben nicht zugleich erfüllen, und die griechischen Banken stellen zu wenig Kapital bereit, während sie versuchen, faule Kredite abzustoßen. Dies hat eine wirtschaftliche Erholung unmöglich gemacht und die Schuldenkrise verschärft. Hinzu kommt, dass die Abnahme des Gesamtkreditvolumens den Anteil der faulen Kredite automatisch ansteigen lässt. Dies ist ein hervorragendes Beispiel für die Absurdität von Tsipras‘ Kürzungspolitik.
Das Scheitern der Banken, sich von faulen Krediten zu trennen, hat seit dem Frühsommer 2018 zu einem schweren Einbruch der Kurse an der Athener Börse geführt. Der gesamte griechische Bankensektor hat seit Tsipras‘ Zustimmung zu einem weiteren Kürzungspaket dramatisch an Wert verloren. Gerüchte machen die Runde, wonach eine weitere Rekapitalisierung der Banken notwendig sein könnte. Sollte sich dies bewahrheiten, wäre dies vor den Wahlen im Jahr 2019 eine Katastrophe für die Regierung.
Deshalb ist der schnellere Abbau fauler Kredite zur Top-Priorität der Troika geworden, und die Tsipras-Regierung kooperiert vollständig. Besondere Sorgen bereiten Troika und Regierung hierbei Immobilien- und Verbraucherinnenkredite, weshalb das gemeinsame Ziel von acht- bis zehntausend Zwangsversteigerungen für 2018 ausgegeben wurde, das 2019 auf fünfzigtausend erhöht werden soll.
Aktivistinnen im Visier der Regierung
Seit der Wende hin zur Kürzungspolitikpolitik sind Zwangsversteigerungen zu einem heißen Eisen für Tsipras und seine Partei geworden. Bis 2015 war „Kein Haus den Banken” einer der beliebtesten Slogans von Syriza. Doch ihre eigenen Kürzungsmaßnahmen haben so viel Druck auf die Regierung ausgelöst, dass sie nun jeglichen Widerstand gegen Zwangsversteigerungen kriminalisiert und mit Haftstrafen von drei bis sechs Monaten bestraft.
Dies hat zu einem scharfen Konflikt zwischen Regierung und der dynamischen Bewegung gegen Zwangsversteigerungen geführt. Seit der Wiederaufnahme der Versteigerungen im Herbst 2016 hat dieser Protest neuen Schwung bekommen. Über Monate hinweg verhinderte die ständige Mobilisierung von Aktivistinnengruppen bei Gerichtsverhandlungen hunderte solcher Verfahren, was den Gesamtprozess erheblich verlangsamte. Auch dies trug dazu bei, dass die Banken ihre Zielvorgaben nicht erfüllen konnten.
Auf Druck der Troika reagierte die Regierung im Sommer 2017 damit, Zwangsversteigerungen statt in der Öffentlichkeit auf einem Online-Portal abzuhalten, auf das individuelle Kanzleien Zugriff haben. Dies hat Protestaktionen erschwert. Trotzdem wird der Widerstand in geringerem Umfang fortgeführt; Versteigerungen werden weiterhin verhindert und die Bereitschaft von Notarinnen, sich an ihnen zu beteiligen, nimmt ab.
»Auch Umweltschützerinnen werden von der Justiz in Visier genommen«
Seitdem haben Auseinandersetzungen mit der Polizei vor den Notariaten zugenommen. Aktivistinnen werden dabei gefilmt und später angezeigt. Seit Jahresanfang wurden bereits dutzende von ihnen juristisch belangt. Einer von ihnen ist Elias Smilios, ein Stadtrat aus der Region Ambelokipi-Menemeni, dem Umland von Thessaloniki, Griechenlands zweitgrößter Stadt. Smilios ist Mitglied von Antarsya, einer Koalition linker Organisationen. In der Provizstadt Volos sehen sich zwanzig Aktivistinnen mit Ermittlungsverfahren konfrontiert, fünfzehn weitere in Argos und Nafplio und drei weitere standen am 21. September bereits in Athen vor Gericht.
Die intensivere Strafverfolgung von Widerstand gegen Zwangsversteigerungen ist nur der offensichtlichste Aspekt der zunehmenden Repressalien der Tsipras-Regierung. Auch Umweltschützerinnen werden von der Justiz in Visier genommen, wie etwa die Gegnerinnen eines Tagebauprojekts eines kanadischen Unternehmens in Skouries in Nordgriechenland.
Generell schlägt die Regierung hart und schnell zu, um Proteste gegen ihre Politik zu unterdrücken, besonders, wenn die Sorge besteht, sie könnten weitere Aktionen inspirieren. Dies geht so weit, dass gepanzerte Polizeieinheiten auf Rentnerinnen losgelassen werden. Zahlreichen Berichten zufolge werden Beamtinnen aus Polizei und Verwaltung dazu angehalten, im Energiesektor und anderswo den Willen der Regierung rigoros umzusetzen. Ein Muster kristallisiert sich heraus, wonach ein „tiefer Staat“ die Konsequenzen von Tsipras’ Politik mit aller Härte durchsetzt.
Der Fall Lafazanis
Eine neue Eskalationsstufe wurde am 26. September erreicht, als Panagiotis Lafazanis, ein wohlbekannter Name innerhalb der griechischen radikalen Linken, wegen seiner Teilnahme an wöchentlichen Demos gegen Zwangsversteigerungen angeklagt wurde.
Lafazanis war Energieminister der Syriza-Regierung, bevor Tsipras auf den neuen Kürzungskurs umschwenkte. Er war eine der Hauptfiguren der „Linken Plattform“, dem damaligen linken Flügel von Syriza. Aktuell ist er Generalsekretär der Laiki Enotita („Volkseinheit“), einer im Sommer 2015 gegründeten neuen Partei, in der sich Mitglieder der Linken Plattform, die sich von Syriza abgewandt haben, mit anderen Organisationen der radikalen Linken vereinigt haben.
»Der „Staats- und Demokratieschutz“ überwacht systematisch Proteste der Opposition. Die Syriza-Regierung hat seine Kompetenzen stark erweitert«
Zum ersten Mal seit dem Ende der Diktatur in den Siebzigerjahren, die Lafazanis wegen seiner Aktivitäten in der Studentinnenbewegung, der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei und im sonstigen Untergrund verfolgte, wurde ein Vorsitzender einer linken Partei wieder politisch belangt. Lafazanis wurde wegen fünfzehn verschiedenen Delikten angezeigt, die mit Haftstrafen von bis zu zwei Jahren belegt sind, und könnte im Fall einer Verurteilung bis zu neun Jahre im Gefängnis verbringen.
Bemerkenswert ist auch, dass das Ermittlungsverfahren vom „Staats- und Demokratieschutz“, einer Sonderabteilung des griechischen Geheimdienstes, ausging, die sich eigentlich mit Terrorabwehr und schweren Bedrohungen der Demokratie befassen soll. Dieser Dienst wurde im Jahr 2000 als Teil einer „Modernisierungswelle“ im Staatsapparat, die Griechenland auf die Währungsunion vorbereiten sollte, gegründet und 2011 im Zuge der Kürzungspolitik erneuert. Er überwacht systematisch Proteste der Opposition und die Syriza-Regierung hat seine Kompetenzen stark erweitert. Auch sticht hervor, dass der Dienst in seiner ganzen Geschichte weder konkrete Maßnahmen gegen die faschistische Partei „Goldene Morgenröte“, noch andere rechtsextreme oder terroristische Organisationen ergriffen hat.
Lafazanis ist keineswegs der einzige Aktivist, der vom Geheimdienst verfolgt wurde. Vier weitere Aktivistinnen, darunter ein Mitglied der Laiki Enotita und zwei des Netzwerks „Ich zahle nichts“, Leonidas and Elias Papadopoulos, wurden ebenfalls wegen zahlreichen Delikten angeklagt. Wie sich herausgestellte, wurde Lafazanis von einer als Journalisten getarnten Polizeieinheit, die Protestaktionen filmte, ständig überwacht. Der Geheimdienst holte zusätzliches Material von Fernsehsendern ein und recherchierte auf Facebook, um Demonstrantinnen zu identifizieren.
Wie geht es weiter?
Die zunehmende Repression hat es für die griechischen Medien unmöglich gemacht, die Situation zu ignorieren, und einiges an öffentlichen Reaktionen provoziert, unter anderem eine Anfrage von dreiundvierzig Syriza-Abgeordneten an den Justizminister. Es scheint dass einige von ihnen ihre moralische Integrität zu erhalten versuchen. Die Regierung betrachtet diese Angelegenheiten hingegen als justiz- und polizeiintern und beharrt auf der angeblichen Unabhängigkeit dieser Institutionen.
Dies ändert jedoch nichts daran, dass die Verfolgung der Aktivistinnen nicht von der Judikative, sondern von Staatsapparat und dem „Staats- und Demokratieschutz“ initiiert wurde. Der Dienst untersteht dem Minister für öffentliche Ordnung. Die Regierung ist also sehr wohl in die Repressalien involviert, was im direkten Zusammenhang zu Kürzungspolitik und Bankenkrise steht.
Neoliberale „Reformpakete“ können nur im Zuge staatlicher Unterdrückung durchgesetzt werden, und die Syriza-Regierung stellt in dieser Hinsicht keine Ausnahme dar. Die griechische Demokratie ist bereits schwer beschädigt, und in den Monaten vor der Wahl wird sich die Lage vermutlich weiter verschlimmern, während die Probleme im Bankenwesen immer offensichtlicher werden. Das wirtschaftliche und gesellschaftliche Desaster, das Tsipras’ Kapitulation nach sich zog, kann von immer breiteren Wählerinnenschichten nicht mehr ignoriert werden und die Verachtung der Regierenden wächst. Da die Regierung ihre Seele bereits an die Gläubiger Griechenlands verkauft hat, wird ihr nichts anderes übrig bleiben, als gegen Widerstand noch härter durchzugreifen.
Dieser Text erschien zuerst auf Englisch beim Kooperationspartner von Ada Magazin, dem Jacobin-Magazine in den USA. Übersetzung von Erik Schmitt
Costas Lapavitsas ist Ökonom und ehemaliges Mitglied des griechischen Parlaments. Er arbeitet als Professor an der SOAS (School of Oriental and African Studies) an der University of London. Er ist Mitverfasser des Buches Crisis in the Euro Zone, Verso, London, 2012
Stathis Kouvelakis unterrichtet Politische Theorie am King’s Kollege in London. Zuvor war der Teil der Führung von Syriza. Die Zeitschrift Emanzipation veröffentlichte 2012 ein ausführliches Interview mit Stathis Kouvelakis.