Wacher Geist, scharfer Verstand und ein links schlagendes Herz: Tithi Bhattacharya ist einer der fesselndsten Köpfe der militanten, feministischen Front, auch wenn sie es als revolutionäre Marxistin vorzieht, dass man sie einfach Genossin nennt. Die Historikerin, Aktivistin, Autorin und Mutter hat sehr treffende Analysen über den Kapitalismus, Genderfragen, die marxistische Theorie, Südostasien, den Kolonialismus und die Islamfeindlichkeit verfasst. In den letzten Monaten war sie im Süden der USA unterwegs, um den dort streikenden Lehrkräften in West Virginia und Oklahoma Mut zuzusprechen. Und wenn sie im letzten Jahr nicht gerade damit beschäftigt war, den internationalen Frauenstreik vorzubereiten, unterstützte sie die BDS-Kampagne (Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen) gegen die israelische Besatzungspolitik.
Ein Interview mit Tithi Bhattacharya; geführt von Siggie Vertcommen
Tithi Bhattacharya ist ausserordentliche Professorin für die Geschichte Südasiens und Leiterin der Global Studies an der Universität Purdue. Sie verfasste die Bücher The Sentinels of Culture: Class, Education, and the Colonial Intellectual in Bengal (Oxford University Press, 2005) und Social Reproduction Theory: Remapping Class, Recentering Oppression (Pluto Press, 2017) und ist Mitglied der „International Women’s Strike”-Bewegung in den USA.
Sie hat trotz ihres Aktivismus und überbordenden Engagements die Zeit gefunden, ein neues Buch zu schreiben. In ihrem im Verlag Pluto Press erschienenen Werk Social Reproduction Theory: Remapping Class, Recentering Oppression erkundet sie mit anderen linken Koryphäen, wie Nancy Fraser, Lise Vogel, Susan Ferguson, David McNally und Cinzia Arruza, das Prinzip der „sozialen Reproduktion“, um so den Alltag im Kapitalismus besser zu verstehen. Durch die Konzentration auf Themen, die im Zusammenhang mit der sozialen Reproduktion stehen – wie die Krippen, Gesundheitsdienste, Renten und Familienleben – wird im Buch die „ganzheitliche“ Beziehung zwischen der wirtschaftlichen Ausbeutung und der sozialen Unterdrückung am Kreuzungspunkt von Gender, Ethnie, Klasse und Sexualität analysiert.
Die Theorie der sozialen Reproduktion hat seit einigen Jahren wieder Aufwind. Angesichts eines „marxistischen Dogmas“, das sich v. a. für die „produktive“ Seite der kapitalistischen Wirtschaft [die ihren Ausdruck in der Stalin-Ära fand – Red.] und die Rolle der Lohnarbeit interessiert, betonen die Feministinnen der sozialen Reproduktion die gesamte Betreuungs- und Reproduktionsarbeit, die zuhause, am Arbeitsplatz und innerhalb der Gesellschaft geleistet werden muss, um den Kapitalismus als globales System aufrechtzuerhalten. Gemäss Bhattacharya bietet die Theorie der sozialen Reproduktion (Social Reproduction Theory – SRT) – als ausgereifte Alternative zur Intersektionalität – grundlegende Inhalte und strategische Konzepte für jene Antikapitalist*innen, Feministinnen und Antirassist*innen aus der ganzen Welt, die „die Welt um sich scharen wollen“. In einem sehr offenen Gespräch spricht sie über ihr letztes Buch, die soziale Reproduktion, #metoo, die neueste Streikwelle und die Bedeutung „chaotischer“ Erzählungen zu Gender- und Rassismusfragen für neue Akzente in den „reinen“ Klassenanalysen [ein Ansatz, der in den Analysen von Marx nicht existiert, was man bereits in Engels Werk Die Lage der arbeitenden Klasse in England aus dem Jahr 1844 sieht – Red.].
Tithi Bhattacarya in einem Fernsehinterview zum Frauen*kampftag 2018
Sigrid Vertommen: Wie bereichert die Theorie der sozialen Reproduktion in Ihren Augen die traditionellen Kategorien der marxistischen Analyse? Von welchem Interesse ist diese Arbeit auf theoretischer und politischer Ebene?
Tithi Bhattacharya: Die Theorie der sozialen Reproduktion (SRT) ist keine Ergänzung des Marxismus, sondern vielmehr eine Vertiefung der Ideen von Marx zur Arbeitswerttheorie. Im Kapitel 21 seines Buches Das Kapital (Band I) schreibt Marx, dass jeglicher Prozess der sozialen Produktion auch ein Prozess der Reproduktion ist, geht aber nie wirklich auf den reproduktiven Aspekt ein. Seine Analyse des Kapitalismus konzentriert sich v. a. auf den Mehrwert, den die Arbeit bei der Herstellung von Gütern erzeugt, die (Re)produktion der Arbeitskräfte wird von ihm hingegen nicht berücksichtigt [Zur Konzeption der Reproduktion bei Marx siehe das Werk von Alain Bihr La reproduction du capital: Prolégomènes à une théorie générale du capitalisme].
Das Buch analysiert die „ganzheitliche“ Beziehung zwischen der wirtschaftlichen Ausbeutung und der sozialen Unterdrückung am Kreuzungspunkt von Gender, Ethnie, Klasse und Sexualität.
Das Hauptziel der SRT ist es, aufzuzeigen, dass im Kapitalismus ein grundlegender Zusammenhang zwischen der Reproduktion der Arbeitskräfte und der Produktion von Gütern besteht. Man denke nur an all die Arbeit, die zuhause erledigt werden muss, und an die Kontakte und Abmachungen, die mit den Partner*innen, Kinderbetreuer*innen, Lehrkräften oder Nachbarn getroffen werden müssen, bevor die Frau am Morgen an ihrem Arbeitsplatz eintrifft. Die SRT analysiert die sozialen Umstände, unter denen die Lohnarbeiter*innen als Träger*innen der Arbeitskraft und Profitquelle im Kapitalismus im Alltag und auf generationenübergreifender Ebene reproduziert werden.
In der SRT werden zwei Arten der Reproduktion aufgezeigt: Die Reproduktion der Arbeitskraft und die Reproduktion der kapitalistischen sozialen Beziehungen. Diese sind miteinander verwoben und stehen zueinander in einer zentralen, aber widersprüchlichen Beziehung. Die Beziehung ist insofern zentral, als die Reproduktion der Arbeitskraft gemäss dem Marxismus eine Profitquelle für den Kapitalismus ist. Wenn es keine Arbeiterin gibt, gibt es auch keinen Profit. Um zu überleben, braucht die Arbeiterin Nahrung, Kleidung, ein Dach über dem Kopf, Bildung, Gesundheitsdienste usw. Der Kapitalismus muss sich zu einem gewissen Grad dieser Bedürfnisse annehmen, denn wenn er in all diese Grundbedürfnisse nicht mehr investiert, werden die Arbeiter*innen schlicht und einfach sterben.
Diese Beziehung ist auch widersprüchlicher Natur, und zwar weil die Investitionen in die Grundbedürfnisse der Arbeiter*innen für den Kapitalismus nicht rentabel sind. Bei einer Investition in ein hochqualitatives, öffentliches Gesundheitswesen, gute Sozialwohnungen und eine gesunde und nachhaltige Lebensmittelproduktion sinken die direkten Gewinne der Kapitalist*innen. Der Kapitalismus steht also vor einem ständigen Dilemma, weil er einerseits von der Lebenskraft der Arbeiter*innen abhängt, aber andererseits nicht zu viel in diese investieren will. Die SRT richtet ihre Aufmerksamkeit auf diese zentrale und widersprüchliche Beziehung und analysiert sie.
Das Faszinierende und Inspirierende an Ihrer Arbeit ist Ihre sehr breite Definition der Zusammensetzung der Arbeiter*innenklasse. Gemäss Ihnen ist die Arbeiter*innenklasse nicht auf die Lohnabhängigen beschränkt. Können Sie das vertiefen?
Man könnte die Lohnabhängigen als genau die Menschen definieren, die heute für einen Lohn arbeiten – aber das ist die Klassenkampfvision eines schlafwandelnden Gewerkschaftssekretärs. Für uns revolutionäre Marxist*innen sind alle Menschen der produktiven Klasse, die im Laufe ihres Lebens zur Gesamtheit der Reproduktion der Gesellschaft beitrugen, Teil der Arbeiter*innenklasse, egal ob ihre Arbeit entlohnt wurde oder nicht.
Diese integrative Vision der Klasse umfasst also sowohl den Latino mit einem Teilzeitjob in einem Hotel in Los Angeles, als auch die Mutter in Indiana mit einem flexiblen Arbeitsvertrag, der ihr die Kinderbetreuung zuhause ermöglicht, was nötig ist, weil die Kitas zu teuer sind, den afro-amerikanischen Vollzeitangestellten in Chicago und den weissen arbeitslos gewordenen Arbeiter der United Automobile Worker (UAW)-Gewerkschaft aus Detroit.
Wir müssen uns also von der landläufigen Idee lösen, dass der Kapitalismus nur ein Wirtschaftssystem ist. Der Kapitalismus ist nicht nur eine Produktionsweise, sondern auch eine Gesamtheit sozialer Beziehungen. Und genau das wollen wir in unserem Buch betonen. Der Kapitalismus bedingt Ausbeutung und Erzeugung von Mehrwert, aber auch Herrschaft, Entfremdung und Unterdrückung. Wenn man sich darauf beschränkt, den Kapitalismus als etwas rein Wirtschaftliches zu sehen, dann endet unsere Erzählung am Fabriktor, an den Grenzen des bewirtschafteten Feldes, am Ausgang des Unternehmens bzw. Büros oder anders gesagt: Sie endet bei Lohn und Gewinn.
Mit einem derart beschränkten Zugang zum Kapitalismus riskiert man, zu vergessen, dass die Beziehung der Arbeiterin zu ihrem Lohn einzig aufgrund ihrer Beziehung zum Leben besteht. Es ist höchste Zeit, dass auch das Leben und die Beziehungen als Probleme der kapitalistischen Tyrannei gesehen werden. Die für ein erfülltes Leben notwendigen „sozialen Nährstoffe“ sind Gesundheitsdienstleistungen, eine anständige Rente, Krippen, öffentlicher Verkehr und Nahrung. Das sind die Dinge, durch die Menschen dazu gedrängt werden, zu arbeiten. Die Leute gehen nicht arbeiten, weil sie gerne hinter einem Schreibtisch sitzen und sich von ihrem Chef zusammenstauchen lassen. Die Menschen sind gezwungen, arbeiten zu gehen, um ihre eigenen Bedürfnisse und die Bedürfnisse ihrer Familie zu befriedigen.
Die Menschen sind gezwungen, arbeiten zu gehen, um ihre eigenen Bedürfnisse und die Bedürfnisse ihrer Familie zu befriedigen.
Es ist dem „Neoliberalismus“ gelungen, die meisten dieser sozialen Dienste zu privatisieren. Neben den Angriffen auf die Löhne zielt der Neoliberalismus auch darauf ab, Wasser, Strom, Wohnungen, die Betreuung der älteren Menschen und die Gesundheitsdienste zu privatisieren. Die Arbeiter*innenklasse bekommt all diese Angriffe auf zentrale Sektoren unmittelbar zu spüren, was das Wiederaufflammen der Proteste gegen die Sparpolitik erklärt. Einer Arbeiterin mitzuteilen, dass ihr Lohn gekürzt wird, ist das Eine. Wenn man ihr aber ankündigt, dass ihre Wasserversorgung gesperrt wird oder dass ihr Wasser mit Giftstoffen versetzt ist, wie in Flint im US-Bundesstaat Michigan, dann realisiert sie, dass nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das ihrer Familie und der Menschen, die sie liebt, auf dem Spiel steht.
Die Feminist*innen der sozialen Reproduktion, inklusive mir, haben versucht, diese reproduktiven Protestaktionen in Bezug auf das Wasser, die Gesundheitsdienste, die Pension usw. unter dem Blickwinkel des Klassenkampfes zu analysieren, weil sie für die Erneuerung der Arbeitskräfte notwendig sind. Der Kapitalismus umfasst also nicht nur die Produktion von Gütern, sondern auch die soziale Reproduktion des Lebens und der Arbeitskräfte, und das Konzept des Klassenkampfes muss daher umgehend auf die Sphären der sozialen Reproduktion ausgeweitet werden.
Wenn man sagt, dass die Reproduktion ein Element des Klassenkampfes ist, was sind dann die strategischen Auswirkungen auf die sachliche und organisierende Arbeit der Gewerkschaften, der Frauenorganisationen und der feministischen Organisationen?
Die Gewerkschaften waren unsere besten Werkzeuge für die Bekundung unseres Widerstandes. Leider fehlt aber heute in unserem revolutionären Werkzeugkasten eine militante Gewerkschaft für die Führung des Kampfes gegen die Lohnungleichheit. Seit dem Aufkommen des Neoliberalismus in den 1970er Jahren zeichnet sich die Arbeitssituation im Norden wie im Süden durch das Fehlen von Gewerkschaften aus – und dort, wo es sie gibt, sind sie schwach und gefügig.
Wenn es heute zu Angriffen auf die Löhne kommt, bieten Gewerkschaften nicht mehr dieselbe Unterstützung für einen gemeinsamen Kampf gegen diese Lohnsenkungen wie in den 1930er oder 1960er Jahren. Dies in einem Kontext, in dem die Reallöhne weltweit sinken und die Arbeitszeit deutlich steigt. Es kam auch zu einem Verrat der Hoffnung, die die Menschen in die Gewerkschaften setzten – einerseits durch jahrzehntelange gewerkschaftsfeindliche Massnahmen von oben (union busting) und andererseits durch die Umwandlung der Gewerkschaften in Unternehmen, welche der Kapitalismus künftig lieber managt als bekämpft. Wenn die Gewerkschaften wieder mehr Macht gewinnen sollen, so müssen sie wieder zu einem Werkzeug der sozialen Macht der Arbeiter*innenklasse werden, so wie es in den USA in den 1930er Jahren, in der Zeit der class struggle unionism (klassenkämpferische Gewerkschaftsbewegung) der Fall war.
Das impliziert, dass wir einerseits ein gutes Verständnis der Bedürfnisse der Arbeiter*innen am Arbeitsplatz und ausserhalb der Arbeit entwickeln und andererseits verstehen, wie die beiden Bereiche verbunden sind. Ein Beispiel: Nehmen wir z. B. an, dass unsere Gewerkschaft Ihnen sagt: „Wir werden deinen Lohn verteidigen, aber wenn die Fremdenpolizei dich und deine Familie ins Visier nimmt, werden wir nicht intervenieren.“ Wenn man diese Gewerkschaft mit einer Gewerkschaft vergleicht, die den Gemeinschaften der Migrierenden in ihrem Kampf gegen Ausschaffungen oder die ethnische Gentrifizierung hilft, dann stellt man fest, dass dies einen enormen Unterschied in Bezug auf Respekt, Vertrauen und Anerkennung macht. Es ist letztere Art von Gewerkschaftsbewegung, die auf dem Klassenkampf aufbaut, die wir wiederbeleben und wiederfinden müssen.
Unsere Arbeit als Feminist*innen, Marxist*innen und Revolutionär*innen besteht im Allgemeinen darin, den Kontakt mit Frauenorganisationen, den palästinensischen Befreiungsbewegungen oder auch der Black-Lives-Matter-Bewegung zu suchen, um auf der Notwendigkeit des Kampfes gegen die Lohnungleichheit zu bestehen. Wir müssen unseren Gewerkschaften und Gewerkschaftsbewegungen sagen, dass der Kampf für Lohngleichheit nicht die Probleme des Rassismus, Sexismus und Imperialismus lösen wird. Eine Gewerkschaft, die unfähig ist, diese Verbindung herzustellen, hat keinerlei Chance auf Erfolg, nicht einmal im engeren Sinn des Lohnkampfes.
Können Sie uns einige Beispiele von Gewerkschaften geben, die fähig sind, diese Verbindung herzustellen?
In den USA gibt es zwei sehr gute Beispiele, die in den letzten Jahren die Tür zu einer neuen Art von Gewerkschaftsorganisation aufgestossen haben. Das erste ist die Lehrer*innengewerkschaft in Chicago, die Chicago Teachers Union, die sich als Gewerkschaft für soziale Gerechtigkeit bezeichnet. In Chicago, insbesondere in den afroamerikanischen und Latino-Vierteln, wurden in den letzten Jahren zahlreiche Schulen geschlossen. Die Chicago Teachers Union hat sich gegen die Schliessung dieser Schulen gewehrt und hat sich auch an der Seite der lokalen Bevölkerung im Kampf gegen Ausschaffungen engagiert. Als die Gewerkschaft im Jahr 2012 effektiv streikte, haben die ausgegrenzten Gemeinschaften diesen Streik bedingungslos unterstützt, weil sie die Gewerkschaft bereits kannten, weil sie das Transparent der Gewerkschaft wiedererkannten, die an ihrer Seite gekämpft hatte. Das ist der Grund, warum der Streik der Lehrer*innen in Chicago so erfolgreich war.
In jüngster Zeit, in einem viel kleineren Rahmen, gibt es auch das Beispiel einer Branche der Gewerkschaft der LKW-Fahrer*innen in New York, die sich aktiv gegen die neuen Ausschaffungsmassnahmen der Regierung Trump engagierte. Diesen Weg müssen wir gehen, wenn wir die gesellschaftliche Macht wiederfinden wollen, die die Gewerkschaften früher hatten.
Der internationale Frauenstreik ist ein weiteres Beispiel des „Knotenpunkts“, an dem all diese Bewegungen zusammenfinden können. Dieses antikapitalistische feministische Projekt propagiert einen Feminismus der Arbeiter*innenklasse, einen Feminismus für die 99%. Die Gewerkschaften und Organisationen müssen zusätzliche Anstrengungen unternehmen, um die Fragen, die traditionellerweise als wirtschaftliche Fragen oder Klassenfragen betrachtet werden, mit den Fragen der sozialen Reproduktion zu verbinden. Nur so können wir weiterkommen.
In einem fesselnden Kapitel deines letzten Buches gibt Nancy Fraser einen historischen Überblick über die verschiedenen Arten der Reproduktion im Kapitalismus, vom industriellen Kapitalismus des 19. Jahrhunderts bis zum keynesianischen Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit und dem Neoliberalismus seit den 1970er-Jahren. Worin besteht die Besonderheit der neoliberalen Reproduktion? Und worin unterscheidet sie sich von den vorhergehenden Reproduktionsarten?
Die neoliberale soziale Reproduktion weist zwei Tendenzen auf. Die erste betrifft die direkte und brutale Privatisierung von grundlegenden Dienstleistungen und Institutionen. Vom Wasser, dem Gesundheitswesen und der Bildung über Wohnungen, Lebensmittel und Saatgut bis zum Benzin: Der Neoliberalismus hat den keynesianischen Pakt zwischen Staat und Kapital in der Welt der Nachkriegszeit mit der Brechstange aufgebrochen.
Die zweite Tendenz betrifft eine andere Kommerzialisierung: Die produktive Arbeit, die zuvor „gratis“ verrichtet wurde, und zwar durch die nicht entlohnte Arbeit der Hausfrauen oder in einer noch länger zurückliegenden Ära durch Sklaven, wird nunmehr kommerzialisiert und in sehr schlecht entlohnte Arbeitsplätze auf dem Arbeitsmarkt verwandelt. Wenn man das Beispiel der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes in den USA heranzieht, dann stellt man fest, dass die Mehrheit der in der US-Wirtschaft im Dienstleistungssektor geschaffenen Arbeitsplätze mit der sozialen Reproduktion der Arbeitskräfte verbunden sind und mehrheitlich von Frauen ausgeübt werden. Ich rede hier von Raumpflegerinnen, Kinderbetreuerinnen, Krankenpflegerinnen, Sexarbeiterinnen. Von der Gesamtheit der im Dienstleistungssektor geschaffenen Arbeitsplätze sind 57 % Arbeitsplätze aus dem Bereich der sozialen Reproduktion, dem Gesundheitswesen, der Betreuungsarbeit und der Ernährung.
Die Kommerzialisierung dieser Arbeitsplätze führt dazu, dass die Frauen der Arbeiter*innenklasse noch mehr durch die Hausarbeit belastet werden. Die einzige Gruppe, die davon profitiert hat, ist eine kleine Gruppe von Frauen, die der Elite angehören. Sie konnten die Glasdecke durchbrechen und CEO (Firmenchefin), Professorin oder Richterin werden, indem sie ihre Aufgaben der sozialen Reproduktion an eine indische Nanny oder eine afroamerikanische Putzfrau delegiert haben. Für die Frauen der Arbeiter*innenklasse und die farbigen Frauen hat sich die Arbeitsbelastung hingegen verdoppelt: Sie arbeiten nun für einen minimalen Lohn im Haushalt einer anderen Person – zusätzlich zur abstumpfenden und endlosen Hausarbeit bei ihnen zuhause.
Wie sehen die soziale Reproduktion und die reproduktive Arbeit in Ihrer idealen postkapitalistischen Gesellschaft aus? Verteidigen Sie einen starken Wohlfahrtsstaat, wo Pflege und Reproduktion kollektiviert werden? Oder befürworten Sie eher die Schaffung gemeinsamer reproduktiver Dienste, mit autonomen Krippen, einem Grundeinkommen oder einem Lohn für die Hausarbeit, als Werkzeuge für eine reproduktive Gerechtigkeit?
Wir leben in einem unbarmherzigen neoliberalen Umfeld, in dem der Kapitalismus die menschlichen Gemeinschaften, die Frauen und die Natur zerstört und alle alltäglichen Aktivitäten bedroht. Auf den ersten Blick erscheinen die keynesianische Lösung und die Stärkung des Wohlfahrtsstaates sehr verführerisch. Es würde mich natürlich sehr freuen, einen ausgeweiteten und stärkeren Wohlfahrtsstaat zu haben, der für Gesundheitsdienste und Sozialwohnungen für alle zur Verfügung stellt. Ich unterstütze im übrigen Bewegungen, die für das Erreichen dieses Ziels kämpfen. Eine Erneuerung und ein Wiederaufleben des Wohlfahrtsstaates würde aber nicht das Ende der Diskussion bedeuten, sondern eher einen Startpunkt. Hier trennen sich die Wege der reformistischen Feminist*innen und der revolutionären Feminist*innen.
Wir sind ehrgeiziger und haben ein viel grösseres Ziel vor Augen, nämlich die Demontierung des Kapitalismus und die Schaffung einer demokratischen Kontrolle der Produktionsmittel und der Reproduktion durch eine Mehrheit der Bürger*innen. Unser Engagement für diese Vorstellung beruht nicht auf Romantik oder Utopismus, sondern unserem Bewusstsein, dass auch dann, wenn es uns gelingt, dem Wohlfahrtsstaat neuen Atem einzuhauchen, eine kostenlose medizinische Versorgung für alle zu erreichen, den NHS [National Health Service: der im Jahr 1948 gegründete staatliche Gesundheitsdienst Grossbritanniens] zu retten und ein Integrationseinkommen in Indien einzuführen, all dies beim nächsten Zyklus der kapitalistischen Krisen wiederum verloren gehen wird. Der Kapitalismus ist in der Tat ein für zyklische Krisen anfälliges System. Die in Zeiten des Wohlstands erreichten Errungenschaften werden in Krisenzeiten wieder unter Beschuss kommen und die nächste Generation muss denselben Kampf nochmals führen. Was wir wollen, ist eine beständige Lösung, einerseits für künftige Generationen und andererseits für das Überleben unseres Planeten.
Wie müsste denn also die soziale Reproduktion nach der Revolution aussehen?
Auch wenn wir als Marxist*innen keine Pläne für die ideale kommunistische Gesellschaft erstellen, würde ich sagen – und ich beziehe mich hier auf die Ideen der ersten Marxist*innen und insbesondere auf eine Strömung, die sich als Bolschewiki bezeichnen [die intern ständig lebhafte und öffentliche Debatten führten, was sie zum Gegenteil einer Sekte machte, zumindest bis zum Beginn der 1920er Jahre] – dass das Hauptproblem in Bezug auf die Unterdrückung der Frauen die Unterscheidung zwischen Produktion und Reproduktion ist. Man muss diese Unterscheidung abschaffen und das ist nur möglich, wenn man die Produktion in Abhängigkeit der menschlichen Bedürfnisse reorganisiert. Das wiederum würde es ermöglichen, die soziale Produktion zu „entgendern“ und sie durch diese Prozesse der sozialen Verantwortung aller unterstellen – anstatt alleinig jener der Frauen.
Auf praktischer Ebene muss man z. B. die nicht entlohnte Hausarbeit der Frauen aus der Privatsphäre der Familien zurückholen und sie erneut kollektivieren. All diese langweiligen, leidigen Hausarbeiten, die zur Isolation verdammen, müssen aus der Privatsphäre zurückgeholt und sozialisiert werden, entweder durch Behörden, die kollektive Betreuung und Dienstleistungen anbieten, oder durch die Beteiligung aller Mitglieder der Gemeinschaft an den familiären Aufgaben. Es geht nicht darum, dass wir Aktivistinnen nicht gerne kochen, sondern darum, dass wir keine andere Wahl haben, als jeden Tag nach einem vollen Arbeitstag auch noch kochen zu müssen. Die Tatsache, dass wir keine andere Wahl haben, tötet unseren Geist und unsere Seele. Die Sozialisierung der Hausarbeit heisst nicht, dass wir nicht selber wählen können, sondern dass diese Wahl erstmals wirklich im wahrsten Sinne des Wortes besteht.
All diese langweiligen, leidigen Hausarbeiten, die zur Isolation verdammen, müssen aus der Privatsphäre zurückgeholt und sozialisiert werden.
Ich stimme wirklich nicht mit der Kampagne „Wages for Housework“ (Lohn für Hausarbeit) überein, die in den 1970er Jahren von autonomistischen Feministinnen wie Silvia Federici, Selma James und Mariarosa Dalla Costa lanciert wurde. Ich bin damit einverstanden, dass die Hausarbeit die Grundlage der Schaffung von Mehrwert ist, weil sie die Arbeitskräfte reproduziert, aber die Hausarbeit schafft keinen Mehrwert, so wie dies bei der Güterproduktion passiert. Für diese Arbeit einen Lohn einzufordern, ist meiner Meinung nach eine schlechte Strategie.
Allerdings sind wir, die Feminist*innen der sozialen Reproduktion, diesen Pionierinnen des autonomen Feminismus extrem dankbar, dass sie die Aufmerksamkeit auf die nicht entlohnte Arbeit gelenkt haben. Sie waren natürlich nicht die Ersten, die das taten, vor ihnen gab es die Bolschewiki und die revolutionären Traditionen der schwarzen Arbeiter*innen in den USA. Diese revolutionären Traditionen gingen jedoch in der Nachkriegszeit verloren. Die autonomen italienischen Feministinnen haben hervorragende Arbeit geleistet, indem sie diese radikalen Traditionen ausgegraben und uns gezwungen haben, den Kapitalismus in seiner Gesamtheit zu betrachten, als Einheit von Produktion und Reproduktion.
Wie kann man aus Sicht der SRT und des marxistischen Feminismus eine Verbindung zur #metoo-Bewegung herstellen? Bis dato haben sich häufig radikale und liberale Feminist*innen das Thema der sexuellen und sexistischen Gewalt angeeignet, indem sie auf die räuberische Natur der Männer als Wurzel allen Übels hinwiesen.
Die #metoo-Bewegung hat einen bemerkenswerten Fortschritt ermöglicht. Das Faszinierende daran ist nicht, dass sich die Frauen der sexuellen Gewalt an ihrem Arbeitsplatz bewusst geworden sind. Die Frauen waren sich dessen immer bewusst und haben sie immer ertragen und dagegen aufbegehrt. Grossartig ist vielmehr, dass das Schweigen, das uns Frauen während Jahrzehnten auferlegt wurde, öffentlich durchbrochen wurde. Die Tatsache, dass dieses Schweigen ein auferlegtes Schweigen ist, ist eine wichtige Nuancierung. Das Schweigen ist nicht darauf zurückzuführen, dass die Frauen Angst haben, zu reden, sondern es wird uns vielmehr durch die sozialen kapitalistischen Beziehungen auferlegt. Ich möchte zwei Beispiele für dieses auferlegte Schweigen anführen.
Wenn man an alle infrastrukturellen Hürden denkt, mit denen Frauen konfrontiert sind, wenn sie ein sexuelles Vergehen anprangern wollen, und insbesondere an die Polizei und das Rechtssystem denkt, die ganz offensichtlich nicht unsere Freund*innen sind, dann haben die Frauen keine andere Wahl, als die erfahrene Traumatisierung für sich zu behalten oder darüber einzig mit ihnen nahestehenden Personen und engen Freund*innen zu sprechen. Wenn man z. B. in den USA gegen einen Senator oder einen Kongressabgeordneten wegen sexueller Gewalt vorgehen will, so ist man verpflichtet, eine einjährige Mediation und Therapie zu durchlaufen, bevor man eine offizielle Klage einreichen kann. Das sind die infrastrukturellen Hürden – neben der Schande und Vorwürfen der Art „Du hast zu viel getrunken“, „Dein Rock war zu kurz“ und anderen derartigen frauenfeindlichen Albernheiten.
Das zweite Problem ist ebenfalls infrastruktureller Natur, aber möglicherweise auf weniger offensichtliche Art. Warum wehrt sich eine Frau nicht gegen ihren Vorgesetzten, der sie sexuell belästigt oder deplatzierte Annäherungsversuche macht? Die Antwort des Kapitalismus auf diese Frage ist, dass sie entweder Angst hat oder mitschuldig ist. Die Antwort der SRT ist, dass ihr sozialer Status je nach ihrer ethnischen Herkunft, ihrer Klasse, ihrer sexuellen Orientierung oder ihrem Status als Immigrantin ernsthaft gefährdet ist. Eine immigrierte Arbeiterin, die Opfer sexueller Gewalt von Seiten ihres Vorgesetzten oder eines Kollegen wird, wird sehr wahrscheinlich den Mund halten und die Gewalt weiter ertragen müssen, wenn sie nicht riskieren will, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, oder muss die Arbeit wechseln, mit dem Risiko, dass dasselbe nochmal passiert.
Zusätzlich zu ihren niedrigen Löhnen haben die immigrierten Arbeiter*innen auch kein Recht auf ein vertrauenswürdiges, zuverlässiges System von Gesundheits- und sozialen Diensten. Wenn man in einem Staat wie den USA gekündigt wird, gibt es kein Sicherheitsnetz zwischen dem Tag, an dem man gekündigt wird, und dem Tag, an dem man eine neue Arbeit findet. Dies bedeutet: Kein Zugang zum Gesundheitsdienst und keine öffentlichen Dienstleistungen, die Ihnen und Ihrer Familie während des Zeitraums helfen, in dem Sie arbeitslos sind. Das endemische Problem des sexuellen Missbrauchs am Arbeitsplatz ist mit dem Fehlen von Gewerkschaften am Arbeitsplatz und dem Fehlen von Diensten für die soziale Reproduktion ausserhalb des Arbeitsplatzes verbunden. Es sind diese Dinge, die den Frauen das Schweigen auferlegen und sie hindern, die Täter anzuprangern.
Das sind die Art von Verbindungen, die der internationale Frauenstreik herzustellen versucht: zwischen der sexuellen und sexistischen Gewalt und den kapitalistischen Beziehungen. Es ist nötig, sich gegen einen gewalttätigen Ehemann oder Vorgesetzten zu wehren – aber es genügt nicht. Wir müssen für ein System kämpfen, das eine starke Gewerkschaft garantiert, die fähig ist, unsere Rechte am Arbeitsplatz zu verteidigen, sowie für ein zuverlässiges System der sozialen Sicherheit ausserhalb der Arbeit, für den Fall, dass wir unseren Arbeitsplatz verlieren. In Chicago haben die Servicekräfte des Hotelsektors und ihre Gewerkschaften für die Einführung eines Alarmknopfes gekämpft, den sie im Fall von Problemen während ihrer Dienstzeit drücken könnten. Für mich entspricht der antikapitalistische Feminismus einem Alarmknopf, den man gegen kapitalistische Gewalttätigkeiten drücken kann.
Wie haben Ihre Überlegungen, Ihre Ideen und Ihre Meinungen in Bezug auf die soziale Reproduktion die Organisation der Bewegung International Women’s Strike (IWS) in den USA bereichert?
Ich habe mich vor zwei Jahren mit einer Gruppe grossartiger feministischer Genossinnen der International Women’s Strike-Bewegung in den USA angeschlossen. Im Rahmen unseres aktivistischen feministischen Vorhabens versuchen wir mehrere Dinge umzusetzen:
- Erstens gegen die Kapitalisierung des Feminismus aktiv zu werden. Wie ich oben erklärte, besteht die dominierende Tendenz des neoliberalen Kapitals nicht darin, die feministische Rhetorik über Bord zu werfen, sondern sie in eine auf das Kapital ausgerichtete Rhetorik zu verwandeln. Dieser entarteten Vision des Feminismus hat die IWS-Bewegung einen klar antikapitalistischen Feminismus entgegengesetzt, den Feminismus der 99%.
- Zweitens war das Wort „Streik“ sehr wichtig für uns, hat uns aber Kritik von Seiten verschiedener Strömungen der Linken in den USA eingebracht. Wir haben dieses Wort absichtlich verwendet. Wir wollten die Aufmerksamkeit auf ein Grundprinzip der SRT lenken, nämlich die Tatsache, dass die Lohnarbeit und die soziale Reproduktion verschiedene Aspekte ein und derselben kapitalistischen Einheit sind und folglich ein Widerstand gegen eine Form impliziert, dass man sich gegen die andere auflehnt. Wir glaubten nicht – und tun es immer noch nicht – dass die gewerkschaftliche Macht in den USA dadurch wiedererlangt werden kann, dass man sich auf die Rekrutierung am Arbeitsplatz im engeren Sinne konzentriert. Wir glauben vielmehr, dass diese gewerkschaftliche Arbeit mittels eines grossen sozialen Kampfes erfolgt, der Arbeiter*innen, Frauen und farbige Menschen vereint. Es ist kein Zufall, dass im letzten Jahr drei Schulen am 8. März geschlossen blieben, weil die Lehrkräfte, die v. a. Frauen waren, sich weigerten, arbeiten zu gehen, und so konkret die Macht eines klassenkämpferischen Feminismus aufzeigten.
- Schliesslich ist es unmöglich, über die SRT zu sprechen, ohne die Frage der erfolgreichen Streiks der Lehrkräfte und der Pflegefachfrauen anzuschneiden, die derzeit in den ganzen USA durchgeführt werden. Ich war während des Streiks der Lehrkräfte in West Virginia und kann Ihnen sagen, dass ich eines der schönsten Wochenenden meines Lebens verbrachte, als ich die Streikenden interviewte und dabei eine ganze Menge lernte.
- Wir müssen uns fragen, warum die Arbeiterinnen [und in vernachlässigbareren Zahlen auch die Arbeiter – siehe die kollektiven Gesundheitsaktionen in Frankreich, die Mareas Blancas in Spanien usw. – Red.] im Reproduktionsbereich – d. h. unsere Lehrkräfte, unsere Pflegekräfte, unsere Hotel-Servicekräfte – die militanteste Strömung der US-Arbeiter*innenklasse darstellen. Weder die Unternehmer noch die Gewerkschaftsbürokraten haben eine Antwort auf diese Frage. Ich werde versuchen, sie zu beantworten. Es passiert nicht nur deswegen, weil – wie ich oben erwähnte – der Sektor sehr stark wächst, was in der Tat der Fall ist, oder aufgrund der verheerenden Budgetkürzungen in diesen Sektoren, sondern auch – und das ist ein zentraler Punkt – weil die Arbeit dieser Menschen die Bedingungen schafft, die für das Funktionieren des Systems notwendig sind, und die Arbeiter*innen sich dessen bewusst sind. Was passiert, wenn die Schulen schliessen? Wenn die Pflegekräfte sich weigern zu pflegen? Wenn die Immigrierten sich weigern zu putzen? Die Arbeit, auf die sich das System abstützt, generiert zwar keinen direkten Mehrwert, hat aber eine enorme Macht über das System. Das haben unsere Lehrkräfte, unsere Pflegefachfrauen und unsere Raumpflegerinnen dem Kapital gelehrt. Und wir hoffen, dass es in den kommenden Tagen immer mehr Streikketten gibt, wo diese Art von Lektionen gelehrt und weitergegeben wird.
Sie sind Aktivistin und Vollzeitprofessorin. Inwieweit hat die Mutterschaft Ihr politisches, intellektuelles und berufliches Leben beeinflusst? Ist sie eher bereichernd oder eher behindernd oder beides?
Ich bin Mitglied der linken Bewegung seit ich 16 bin. Ich habe mich immer als Marxistin oder revolutionäre Marxistin gesehen. Als solche habe ich immer gegen die Unterdrückung der Frauen gekämpft. Erst seit 2008, nach der Geburt meiner Tochter, begann ich, die Verbindung zwischen der Gender-Frage und dem Kapitalismus zu spüren, nicht nur auf intellektueller Ebene, sondern auch auf körperlicher Ebene, und habe erst dann darauf bestanden, dass man mich als feministische Marxistin bezeichnet. Dieser neue Begriff war sehr wichtig für mich. Die Schwangerschaft, die Geburt und die ersten Jahre, in denen ich mich um meine Tochter kümmerte, haben mich auf einen Schlag verwandelt: Ich wurde von einer aktiven, energiegeladenen und sexuell begehrenden Frau zu einer ständig müden, verängstigten, körperlich gehemmten und besorgten Mutter.
Die US-amerikanische Feministin und Dichterin Adrienne Rich [u.a. Autorin des berühmten Buches Von Frauen geboren. Mutterschaft als Erfahrung und Institution – Red.] rettete mich, durch ihre Unterscheidung zwischen Mutterschaft als Erfahrung – von der ich mehr oder weniger profitiert hatte – und Mutterschaft als Institution – die ich instinktiv hasste. Mein Partner hat mir geholfen, von Ersterer mehr zu profitieren und mir weniger Sorgen um Letztere zu machen. Nach 2008 hat das neue Wort „Feministin“ in mir eine neue Aufmerksamkeit geweckt, indem ich mich mit den Geschichten und Dingen verbunden habe, die ich immer verteidigt hatte, aber von denen ich mich vielleicht nicht genug betroffen fühlte. Das gilt sicher auch für alle Formen der Betreuung und nicht nur für die Mutterschaft. Der Feminismus hat in mir einen revolutionären Marxismus geweckt, wodurch beides, der Sinn und das Vorhaben, eine Änderung erfuhren.
Dieses Interview erschien im Juli 2018 im niederländischen Magazin Lava. Die redaktionellen Anmerkungen stammen von der Redaktion von alencontre.org, die die französische Version des Textes am 13. Januar 2019 auf ihrer Website veröffentlichte. Sozialismus.ch veröffentlichte das Interview am 29. Januar 2019 auf Deutsch.