Nach dem Aufstand ab April 2018 scheint das Regime des Präsidentenpaars Ortega-Murillo seine Macht vorerst gesichert zu haben. Im Dezember wurden missliebige Fernsehsender und die Menschenrechtsorganisation CENIDH geschlossen. Ob sich das Regime halten kann ist ungewiss. Deprimierend ist, dass es nur Ansatzweise linke Alternativen zu Ortega gibt. Er hat die sozialistischen und sandinistischen Ideale längst verraten. Ein Bericht der Organisation Amerikanischer Staaten bestätigt unterdessen, was linke Beobachte*innen schon seit Beginn des Aufstands sagten: Polizei und Paramilitärs gingen in aller Härte gegen den legitimen Aufstand vor.
von Matthias Schindler
Ende Dezember 2018 und Anfang Januar 2019 riefen zwei Nachrichten in Nicaragua und der internationalen Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit hervor.
Am 22. Dezember veröffentlichte die GIEI (Grupo Interdisciplinario de Expertos Independientes) ihren Bericht über die Entwicklung der Ereignisse, die im April zu einer Explosion der Gewalt geführt hatten. Diese Untersuchung war zunächst zwischen der Regierung Nicaraguas und der OAS (Organisation Amerikanischer Staaten) vereinbart worden, um die Hintergründe der Ereignisse zwischen dem 18. April und dem 30. Mai zu ermitteln. Inzwischen will die Regierung Nicaraguas von dieser Vereinbarung nichts mehr wissen und hat die Untersuchungskommission des Landes verwiesen. Sie konnte ihren Bericht deshalb nicht in Nicaragua, sondern musste ihn in der US-Hauptstadt Washington vorstellen
Am 8. Januar 2019 erklärte Rafael Solís – seit vielen Jahren einer der engsten Vertrauten von Daniel Ortega – in einem Offenen Brief an den Präsidenten Daniel Ortega, die Vize-Präsidentin Rosario Murillo und den Präsidenten der Nationalversammlung Gustavo Porras seinen sofortigen und unwiderruflichen Rücktritt als Richter am Obersten Gerichtshof Nicaraguas. Gleichzeitig legte er seine sämtlichen politischen Ämter nieder und verließ die FSLN (Nationale Sandinistische Befreiungsfront), der er 43 Jahre lang angehört hatte.
Leider gibt es in der deutschen und internationalen Linken immer noch Kräfte, die es vorziehen, ihre Augen vor der Wirklichkeit der staatlichen Repression in Nicaragua zu verschließen. So veröffentlichte Jan Schwab am 14. Januar 2019 auf der Plattform Indymedia einen Artikel, der in weiten Zügen bestreitet, was in diesen beiden Dokumenten detailliert und deutlich dargestellt wird. So schreibt er in Verdrehung der Tatsachen unter anderem von einem „bewaffneten Aufstand der Opposition“, von einer „Mehrparteiendemokratie, die derzeit nur partiell […] angegriffen wird“, davon, dass die „Presse- und Meinungsfreiheit […] garantiert war“, davon, dass es „in Nicaragua keine Todesschwadrone oder Paramilitärs“ gebe und dass das „Gesamtbild ganz und gar nicht hinreicht, um von einer ‚Diktatur‘ zu sprechen“. Zwar bewertet er die Regierung Ortega in Bezug auf die Demokratieentwicklung als „defizitär“, aber dennoch als „vergleichsweise moderat“. Sein Fazit ist, dass die Regierung Ortega gegenüber der Opposition „vorzuziehen“ sei.
Schwab hatte 25 Tage Zeit, um die Ergebnisse der Untersuchungskommission GIEI in seinem Artikel aufzugreifen. Er hatte 6 Tage Zeit, um auf den bedeutungsvollen Rücktritt von Rafael Solís einzugehen. Aber er erwähnt diese beiden Dokumente mit keinem Wort. Zu Beginn der Proteste im April 2018 war er bereits nach 5 Tagen in der Lage, diese als einen „neoliberalen Aufstand“ zu brandmarken. Es sieht so aus, dass sich der Autor seine Informationen dort zusammensucht, wo sie seinen Vorstellungen entsprechen und dass er wichtige Informationen ignoriert, wenn sie sein politisches Befinden stören. Hier die wichtigsten Aussagen der beiden erwähnten Dokumente.
1. Bericht der Untersuchungskommission
Die unabhängige Untersuchungskommission GIEI stellt in ihrem Bericht fest:
- Es gab bereits seit vielen Jahren die Praxis, dass regierungskritische Demonstrationen mit „Gegendemonstrationen“ beantwortet wurden, bei denen Unterstützer der Regierung Ortega-Murillo mit Schlägen, Knüppeln und Steinen gegen die ursprüngliche Demonstration vorgingen, während die anwesende Polizei passiv dabei zusah.
- Um Unterschied zu früher haben sich die Protestierenden dieses Mal jedoch nicht von den Angriffen einschüchtern lassen, sondern sind mit einer deutlich höheren Beteiligung und in mehreren Städten gleichzeitig wieder auf die Straße gegangen.
- Ging es am 18. April noch um die Rücknahme einer Rentenreform, so wurde am 19. April schon für das Recht auf Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit demonstriert.
- Dieser Kontrollverlust veranlasste die Regierung offensichtlich dazu, den Einsatz von Schusswaffen gegen die Demonstrationen, die innerhalb weniger Tage einen Massencharakter angenommen hatten, zu befehlen.
- Neben den regulären Polizeikräften kamen auch Einheiten der Aufstandsbekämpfung, sowie die sogenannte Sandinistische Jugend und andere maskierte Zivilisten zum Einsatz, die in offener Zusammenarbeit mit der Polizei gegen die Demonstrierenden vorgingen.
- Dabei wurden von staatlicher Seite unter anderem folgende Kriegswaffen eingesetzt: AK47, AK74, M16, Scharfschützengewehr Dragunov, Maschinengewehr PKM.
- Im Beobachtungszeitraum kam es zu 109 Todesopfern, von denen 95 auf Grund des Einsatzes von Schusswaffen starben.
- Die Protestbewegung hatte zunächst als reine Selbstschutzmaßnahme gegen die massiv auftretenden Repressionskräfte weit über hundert Straßensperren („Tranques“) errichtet.
- Von der Protestbewegung ausgehende Gewaltakte beschränkten sich weitgehend auf das Steinewerfen und den Einsatz von handgemachten Mörsern („Morteros“), die hauptsächlich bei Volksfesten eingesetzt werden und im Wesentlichen Lärm verursachen.
- Vereinzelt wurden von den Protestierenden auch Molotow-Cocktails geworfen und in höchstens zehn Fällen industriell hergestellte Gewehre eingesetzt.
- Die landesweite, gleichartige und gleichzeitige Organisation der staatlichen Repressionsmaßnahmen lässt darauf schließen, dass diese von der Regierung angeordnet wurden und nicht auf Unzulänglichkeiten oder Zufälligkeiten vor Ort zurückzuführen sind.
- Angesichts der zentralen Organisation des Staatswesens Nicaraguas und verschiedener Äußerungen der höchsten Autoritäten des Landes gilt es als erwiesen, dass die staatliche und paramilitärische Gewalt gegen die Protestdemonstrationen direkt und persönlich vom Präsidentenpaar angeordnet und organisiert wurde.
Die Analyse der GIEI führt zu der Schlussfolgerung, dass es sich bei der Repression des vergangenen Jahres um Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelt, was vor allem folgende Bedeutung hat:
- Diese Verbrechen können nicht verjähren.
- Es ist nicht möglich, durch Amnestien oder andere Maßnahmen die Strafverfolgung auszusetzen.
- Es gilt der Rechtsgrundsatz der „universellen Gerichtsbarkeit“, das heißt, wenn diese Verbrechen in dem Land, wo sie begangen wurden, nicht juristisch verfolgt werden, können Gerichte in anderen Ländern sich für zuständig erklären und ein entsprechendes Strafverfahren durchführen.
- Es ist möglich, diese Verbrechen vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu bringen.
Bis heute hat sich die Anzahl der Todesopfer auf über 300, nach anderen Schätzungen über 500 erhöht, es gibt mehrere Tausend Verletzte, über 500 politische Gefangene und über 40.000 Flüchtlinge, die im Nachbarland Costa Rica Schutz vor der Repression suchen.
2. Rücktritt von Rafael Solís
Der ehemalige Richter am Obersten Gerichtshof Rafael Solís begründet seinen Schritt damit, dass die Regierung ihre Position gegenüber der Opposition immer weiter verhärtet habe, sodass er „nicht mehr die geringste Möglichkeit“ sehe, im Jahr 2019 in einen „nationalen Dialog“ einzutreten, durch den „der Frieden, die Gerechtigkeit und die Versöhnung in Nicaragua“ wieder hergestellt werden könnte.
Er hält die Aussagen verschiedener Menschenrechtsinstitutionen von über 300 Todesopfern für glaubwürdig und bestätigt, dass es mehr als 500 politische Gefangene gibt, die „unter absurden Beschuldigungen von Taten, die sie nie begangen haben“ verhaftet wurden. Er spricht von einem „wahrhaften Terrorstaat“, der sich durch den „exzessiven Einsatz parapolizeilicher Einheiten und der sogar mit Kriegswaffen ausgerüsteten Polizei“ auszeichne. „Es gibt keinerlei Recht mehr, das heute respektiert wird.“ Nicaragua sei zu einer „Diktatur“ geworden, die die Form einer „absoluten Monarchie“ angenommen habe, in der „zwei Könige sämtliche Staatsgewalten abgeschafft haben“.
Anstatt sich um interne oder externe Vermittler zu bemühen, hätten sie „beschlossen, die Proteste der Menschen durch den völlig unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt und durch die verantwortungslose Bewaffnung von Jugendlichen und einigen Sandinisten im Ruhestand, die an den Repressionsmaßnahmen der Polizei teilgenommen hatten, im Blut zu ertränken“.
Zu der Behauptung Ortegas, dass es sich bei den Protestwelle, die im April 2018 begann, um einen von außen gesteuerten Putschversuch gegen die Regierung Nicaraguas gehandelt habe, stellt Solís fest: „Es gab weder einen Staatsstreich noch eine Aggression von außen, sondern einzig und allein einen irrationalen Ausbruch von Gewalt, bei dem Ihr [Ortega und Murillo] Euch darauf festgelegt habt, dieses Land in einen Bürgerkrieg zu führen, an dem ich in keiner Weise teilnehmen möchte, und schon gar nicht an Eurer Seite“.
Solís bestätigt auch, dass es in Nicaragua keinerlei unabhängige Gerichtsbarkeit mehr gibt. Die Richter, die in den letzten Wochen harte Urteile gegen angebliche Terroristen gefällt haben, hätten nur die Anweisungen des Präsidentenpaares ausgeführt: „Sie hatten keine Alternative dazu, Carmen [dem Amts- und Wohnsitz von Ortega und Murillo] zu gehorchen“.
Seine Einschätzung, dass bis zum 18. April 2018 in Nicaragua ein „Rechtsstaat herrschte und die Verfassung respektiert wurde“, während die Ereignisse danach „all dies zerstört haben und eine große Enttäuschung für mich bedeuteten“, muss wohl in erster Linie als Versuch gewertet werden, seine langjährige Beteiligung am System Ortega zu rechtfertigen.
Diese Stellungnahme von Rafael Solís hat zwei wichtige Aspekte: Erstensist er bisher die höchstrangige und Ortega-Murillo am nächsten stehende Persönlichkeit, die sich dem Präsidentenpaar offen und mit einer unmissverständlichen politischen Botschaft entgegenstellt. Er drückt damit die Gefühle und Meinungen vieler Sandinistinnen und Sandinisten aus, die eigentlich seit vielen Jahren treue Anhänger Ortegas sind, aber die brutalen Repressionsmaßnahmen des vergangenen Jahres nicht gutheißen. Es wird daher in nächster Zeit sicherlich zu weiteren Rücktritten und Absetzbewegungen kommen. Von den noch lebenden ehemaligen neun Comandantes de la Revolución – der Nationalen Leitung der FSLN während der Sandinistischen Revolution (1979-1990) – gibt es inzwischen keinen einzigen mehr, der Ortega unterstützt. Als letzter von ihnen stellte sich Bayardo Arce offen gegen die Repressionspolitik des Präsidenten. Er ist heute untergetaucht und wird von der Polizei gesucht, seine Familie befindet sich bereits in Costa Rica. Der Rücktritt von Rafael Solís ist das bisher deutlichste Indiz, dass der innere Zerfallsprozess des Regimes voranschreitet. Er ist unumkehrbar und kann nur einen möglichen Ausgang haben: das Ende der Präsidentschaft und der Herrschaft von Ortega, Murillo und ihrer letzten Getreuen.
Diezweitebedeutende Aussage des Offenen Briefes besteht darin, dass Solís – Trauzeuge der Heirat von Ortega und Murillo, ehemaliger Oberster Richter Nicaraguas und seit vielen Jahren die graue Eminenz aller juristischen Maßnahmen und Tricksereien Ortegas – die zentralen Feststellungen des Berichtesder Unabhängigen Untersuchungskommission GIEI über die Ereignisse vom April und Mai 2018 bestätigt.
Danach sind die Massenproteste weit überwiegend friedlich verlaufen, während die Staatsmacht mit unverhältnismäßiger Gewalt, mit Kriegswaffen und zusammen mit illegalen Paramilitärs gegen die Zivilbevölkerung vorgegangen ist. Es hat weder einen Putsch noch eine Aggression von außen gegeben, und die Regierung hat massive Verletzungen der Menschenrechte begangen.
3. Die Realität zur Kenntnis nehmen!
Wenn die US-Regierung und ihre Verbündeten Nicaragua aktuell vorwerfen, die Menschenrechte zu verletzen, dann geht es ihnen ohne Zweifel in Wirklichkeit um ihre politischen und wirtschaftlichen Hegemonialansprüche. Es ist nicht bekannt, dass Washington sich in den letzten Jahren jemals über die Lage der Menschenrechte in Mexiko oder Kolumbien besorgt gezeigt hätte.
Aber das macht die Menschenrechtsverletzungen in Nicaragua nicht besser. Sie sind kriminelle Taten und zugleich eine Tragödie für die Opfer und deren Angehörige. Der politische Schaden für die Linke wiegt doppelt schwer, weil diese Verbrechen im Namen des „Sozialismus“ und der „Solidarität“ begangen werden. Wenn die internationale Linke diese Verletzungen der Menschenrechte nicht klar und deutlich zurückweist, werden sie politisch auch gegen sie benutzt werden. Je deutlicher sich die Linke mit den Opfern der Repression solidarisiert (was nicht bedeuten muss, jede Forderung der Protestbewegung auch automatisch zu unterstützen!), desto größer ist die Chance, dass die Opposition ihre Unabhängigkeit gegenüber falschen Freunden bewahren kann.
Die unerlässliche Voraussetzung hierfür ist jedoch, die Realität so anzuerkennen, wie sie tatsächlich ist. Gerade in diesen Zeiten tiefster Rückschläge und Enttäuschungen bleibt es wahr, was Rosa Luxemburg gesagt hat: Zu sagen, was ist, bleibt die revolutionärste Tat. Keine Relativierung oder gar Beschönigung der diktatorischen Verhältnisse in Nicaragua kann das Regime Ortega-Murillo noch retten. Dagegen werden solche Versuche dazu führen, dass deren Urheber und ihre Unterstützer immer deutlicher als unverbesserliche Stalinisten wahrgenommen werden, für die der Sozialismus ein gewaltsames Zwangsregime ist, in dem niemand mehr leben will – noch nicht einmal diejenigen, die diese Positionen formulieren.
Leider befindet sich der eingangs erwähnte Jan Schwab immer noch auf dem Weg der Relativierungen und Beschönigungen. Wenn er sagt, es gebe keine Paramilitärs und es gebe keine Diktatur, dann ist das nur noch reines Wunschdenken, das öffentliche Verschließen der eigenen Augen, weil er die Realität der Verhältnisse nicht wahrhaben will. Im April des vergangenen Jahres, als es die ersten Toten zu beklagen gab, kam er in einem Artikel über Nicaragua zu dem Ergebnis, dass die „Ortega-Regierung […] für die arbeitende Klasse in Nicaragua […] vorzuziehen“ sei. Sechs Monate später, nachdem die Anzahl der Toten auf über 300 gestiegen ist, über 500 politische Gefangene in den Gefängnissen sitzen und über 40.000 Menschen nach Costa Rica geflohen sind, kommt er in seinem letzten Artikel fast wortgleich erneut zu der Schlussfolgerung, dass die „Ortega-Regierung […] aus einer Perspektive, die für die Ärmsten in Nicaragua Partei ergreifen möchte […] vorzuziehen“ sei. Offensichtlich hat er bisher überhaupt noch nichts dazugelernt. Noch nicht einmal, wie man den Namen der vielleicht wichtigsten Akteurin in diesem ganzen Drama – Rosario Murillo – richtig schreibt.
Es mag unterschiedliche Auffassungen darüber geben, ob es sich bei den Repressionsmaßnahmen der Regierung Ortega im juristischen-technischen Sinne tatsächlich um Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelt oder nicht. Die Beantwortung dieser Frage hat auch tiefliegende politische Dimensionen, die von verschiedenen Seiten unterschiedlich bewertet werden. Das ändert aber nichts daran, dass es sich bei den seit April 2018 in Nicaragua begangenen Verbrechen um schwere Verletzungen der Menschenrechte handelt, die untersucht und aufgeklärt werden müssen.
Auf welche Weise auch immer das Regime Ortega-Murillo sein Ende finden sollte, es wird ein juristisches Nachspiel für diejenigen haben, die an den Repressionsmaßnahmen beteiligt waren, sei es mit der Waffe in der Hand oder als Befehlsgeber im Hintergrund.
Nach dem Sieg der Sandinistischen Revolution von 1979 wurden Sondergerichte geschaffen, um die Täter zu bestrafen, die an kriminellen Unterdrückungsmaßnehmen der Nationalgarde des Diktators Somoza beteiligt waren. Aber die Bildung dieser Tribunale und deren Rechtsprechung wurden sogar vom damaligen komplett neu zusammengesetzten Obersten Gerichtshof Nicaraguas als unnötig und in vielen Fällen auch als nicht Rechtens kritisiert. Die Übergabe der Regierungsgewalt von den Sandinisten an die bürgerliche Präsidentin Violeta Chamorro im Jahr 1990 fand unter dem Motto statt: Wir vergessen die Vergangenheit und fangen noch einmal bei Null an. Dies bedeutete in der Praxis, dass weder die Verbrechen der von den USA unterstützten Contras, noch diejenigen der sandinistischen Regierung untersucht und aufgearbeitet wurden. Dies wird sich jetzt nicht wiederholen.
Die erste Forderung der demokratischen Protestbewegung ist die nach „Gerechtigkeit“, und das heißt, dass die Täter ermittelt und bestraft und dass die Opfer entschädigt werden müssen.
Die internationale Solidaritätsbewegung sollte dies auf die Weise unterstützen, dass die eigenen Regierungen aufgefordert werden, durch technische und juristische Hilfe, wie auch durch internationalen politischen Druck alles zu tun, was möglich ist, um ein solches Verfahren der Übergangsjustiz in Nicaragua einzurichten.Gleichzeitig muss die Linke in einen Reflexionsprozess eintreten, der die Schwachpunkte der Entwicklungen in Nicaragua aber auch der eigenen Positionen kritisch und selbstkritisch analysiert. Nur wenn man die Wirklichkeit in all ihrer Komplexität, mit all ihren Widersprüchen und Rückschritten erfasst, können daraus auch die richtigen Schlussfolgerungen für die Zukunft gezogen werden. Gewalt und Unterdrückung kann und darf kein Mittel für emanzipatorische Entwicklungen sein. Anstatt die Menschenrechts-Verbrechen des Regimes Ortega-Murillo mit gewissen sozialen Wohltaten aufzuwiegen, sollte sich endlich in der gesamten Linken ein Bewusstsein durchsetzen, dass der Kampf für eine bessere Gesellschaftsordnung untrennbar mit dem Kampf für umfassende demokratische Freiheiten und Rechte verbunden ist.
Geschrieben am 23. Januar 2019.
Matthias Schindler ist seit den frühen 1980er Jahren in der Solidaritätsbewegung in Deutschland mit den revolutionären Bewegungen in Zentralamerika aktiv und hielt sich oft in Nicaragua auf.