Eine antikapitalistische Alternative zum neoliberalen Feminismus
Interview mit Cinzia Arruzza
Aus: Sozialistische Zeitung, März 2019
Die italienische Feministin Cinzia Arruzza lehrt Philosophie an der New School of Social Research in New York und ist Autorin von Feminismus und Marxismus (Neuer ISP Verlag, 2016). Zusammen mit Nancy Fraser und Tithi Bhattacharya veröffentlichte sie kürzlich das Manifesto for a Feminism for the 99% (Verso, 2019). Das folgende Interview mit Arruzza führte Josefina L. Martínez für das spanische Internetmagazin ctx – Revista Contexto im August 2018.
Sie haben zusammen mit anderen ein «Manifest für einen Feminismus für die 99 Prozent» verfasst. Was sind Ziel und Hauptthese des Manifests?
Der Feminismus für die 99 Prozent ist die antikapitalistische
Alternative zu dem liberalen Feminismus, der in den vergangenen
Jahrzehnten infolge des geringen Grads an Kämpfen und Mobilisierungen in
der Welt hegemonial geworden ist. Unter liberalem Feminismus verstehen
wir einen Feminismus, der sich auf Freiheiten und auf formale Gleichheit
konzentriert, ein Feminismus, der die Ungleichheit der Geschlechter
beseitigen will, aber mit Mitteln, die nur den Frauen der Elite
zugänglich sind.
Wir denken dabei etwa an den Typ von Feminismus, der von Frauen wie
Hillary Clinton verkörpert wird. Aber auch an den Feminismus, der in
Europa zu einem Verbündeten von Regierungen bei der Durchsetzung ihrer
islamophoben Politik im Namen von «Frauenrechten» geworden ist. Dieser
Feminismus erstrebt Geschlechtergleichheit innerhalb einer spezifischen
Klasse – der privilegierten – und lässt die große Mehrheit der Frauen
außen vor.
Der Feminismus der 99 Prozent ist eine Alternative zum liberalen
Feminismus, denn er ist offen antikapitalistisch und antirassistisch: Er
trennt nicht die formale Gleichheit und Emanzipation von der
Notwendigkeit, die Gesellschaft und die gesellschaftlichen Beziehungen
in ihrer Gesamtheit zu verändern und die Ausbeutung der Arbeit, die
Ausplünderung der Natur, Rassismus, Krieg und Imperialismus zu
überwinden. Schließlich positioniert er sich unmittelbar als Teil des
Transfeminismus, verteidigt die Rechte und Bedürfnisse von
Sexarbeiterinnen und -arbeitern und ist bestrebt, gesellschaftliche und
politische Allianzen mit allen Bewegungen zu bilden, die für eine
bessere Welt für die 99 Prozent kämpfen.
Glauben Sie, dass die neue Frauenbewegung, die sich gerade in der ganzen Welt entwickelt, eine Wiederkehr des Klassenkampfs ankündigt?
Das ist meine Hoffnung, darauf setze ich. Diese neue feministische
Welle ist die einzige existierende transnationale Mobilisierung, die
Millionen Frauen und Männer aus der ganzen Welt zusammenbringt. In
einigen Ländern ist es schon schwierig, zwischen Klassenkampf und der
feministischen Bewegung eine klare Trennlinie zu ziehen, vor allem in
Argentinien natürlich, aber auch in Spanien und Italien.
Diejenigen, die aufrichtig an einer Wiederbelebung des Klassenkampfs
interessiert sind, sollten ein für allemal die spalterische und
abwertende Haltung gegenüber dieser feministischen Welle aufgeben: Hört
auf zu glauben, dass feministische Mobilisierungen eine Antithese zum
Klassenkampf oder bestenfalls eine äußerliche Ergänzung sind. Die neue
feministische Welle sollte vielmehr als ein Prozess von Radikalisierung
und Politisierung betrachtet werden, in der die Subjektivität der
Arbeiterinnen – die oftmals jung, prekär beschäftigt, schlecht oder gar
nicht bezahlt sind, ausgebeutet und am Arbeitsplatz sexuell belästigt
werden – als eine kämpferische und potenziell antikapitalistische
Subjektivität entsteht.
Es scheint, dass in den aktuellen und zukünftigen Kämpfen der Arbeiterklasse die Frauen eine führende Rolle spielen werden. Ist das jetzt schon so?
Es gibt ein interessantes Phänomen: Wir erleben eine bedeutende Zunahme von Streiks und Mobilisierungen am Arbeitsplatz im Bereich der sozialen Reproduktion. Zum Beispiel die Streiks des Lehrpersonals in den USA – wilde Streiks, die die Dynamik der Arbeiterbewegung deutlich verändern –, oder die Streiks der Angestellten im Gesundheitswesen in Indien… In diesen Streiks bilden Arbeiterinnen die Mehrheit und spielen eine Schlüsselrolle. Obwohl es keine explizite Verbindung zwischen diesen Streiks und dem internationalen Frauenstreik der letzten Jahre gibt, glaube ich, dass die feministische Bewegung eine Rolle bei der Ermächtigung dieser Frauen spielt, indem sie demonstriert, dass Rebellion möglich und nötig ist.
Bei den feministischen Mobilisierungen in Spanien und Argentinien hören wir immer häufiger: «Patriarchat und Kapital – eine kriminelle Allianz». Gibt es erneut eine Debatte über das Verhältnis zwischen Frauenunterdrückung und Kapitalismus?
Der Grund für solche Parolen ist, dass wir über strukturelle Fragen
und die Komplexität sozialer Beziehungen neu nachdenken, während in den
letzten Jahrzehnten der größte Teil des Feminismus mit der sog.
«linguistischen Wende» beschäftigt war und sich insbesondere auf Fragen
von Sprache, Kultur und Machtverhältnissen zwischen Individuen
konzentriert hat.
Es ist ein sehr positives Zeichen, dass junge Feministinnen daran
interessiert sind, die strukturelle Verbindung zwischen
Frauenunterdrückung und Kapitalismus, die Wurzel unserer aktuellen
Situation, zu begreifen.
In verschiedenen Beiträgen bekämpfen Sie die These von der «dualen Unterdrückung», wonach Kapitalismus und Patriarchat autonome Systeme sind. Warum ist diese Theorie falsch, und was sind die praktischen Konsequenzen für die Frauenbewegung?
Es gibt verschiedene Versionen der Theorie von der «dualen
Unterdrückung», sie haben je verschiedene politische Konsequenzen. Die
klassischste Version, beeinflusst vom französischen materialistischen
Feminismus, endet – in der einen oder anderen Weise – mit der
Konzeptualisierung ethnischer und Geschlechterunterdrückung als Systeme
ausbeuterischer Beziehungen. Deshalb begreifen sie Geschlecht als
Klasse.
Meine Einwände sind zweierlei. Erstens müssen wir, wenn wir Geschlecht
als Klasse begreifen, sexuelle und Geschlechterunterdrückung als
Klassenantagonismen interpretieren, die grundsätzlich Möglichkeiten
gemeinsamer Bündnisse und Kämpfe zwischen Männern und Frauen
ausschließen. Einfach ausgedrückt: Ich würde kein Bündnis mit meinem
Arbeitgeber eingehen. Und zweitens, wenn Geschlecht, Ethnie und Klasse
drei autonome Systeme sind und sich überschneiden oder kombinieren, ist
überhaupt nicht klar, warum sie dies tun. Tatsächlich treten in einigen
Fällen traditionelle Formen der Geschlechterunterdrückung in
unmittelbaren Konflikt mit kapitalistischen Interessen.
Im Gegensatz zu den «dualen» Theorien verteidigen Sie das Konzept der «gesellschaftlichen Reproduktion» und reklamieren es für eine marxistische feministische Theorie.
So wie ich das Verhältnis zwischen Geschlecht und Klasse
interpretiere – zusammen mit Autorinnen wie Nancy Fraser, Tithi
Bhattacharya und anderen –, basiert es auf dem Begriff der
gesellschaftlichen Reproduktion. Kurz gesagt, bezieht es sich auf die
Aktivitäten und die Arbeit im Zusammenhang mit der biologischen,
täglichen und Generationen umfassenden Reproduktion der Arbeitskraft.
Eine Arbeitskraft zu reproduzieren bedeutet die Reproduktion von
Menschen, von Leben. Das ist nicht beschränkt auf die Bedürfnisse bloßer
Subsistenz oder des Überlebens. Es erfordert auch die Befriedigung
komplexerer Bedürfnisse und die Reproduktion von Fertigkeiten, die dazu
beitragen, die Arbeitskraft in die spezielle Ware zu verwandeln, die auf
dem kapitalistischen Markt verkauft werden kann.
Wir sprechen deshalb über die Sozialisation von Kindern, von Bildung und
Erziehung, aber auch von Gesundheit und sozialen Dienstleistungen. Die
Arbeitskraft in diesem Typ von Aktivität ist im doppelten Sinne stark
feminisiert: Die große Mehrheit der Arbeitenden (lohnabhängig wie
nichtlohnabhängig) sind Frauen, und sie gehören zu den am meisten
Ausgebeuteten.
Und wie verbinden sich Unterdrückung und Ausbeutung mit der Sphäre der gesellschaftlichen Reproduktion?
Der Schlüssel zum Verständnis dessen, was gesellschaftliche
Reproduktion mit Frauenunterdrückung (und zum Teil ethnischer
Unterdrückung) zu tun hat, ist, dass gesellschaftliche Reproduktion im
Kapitalismus notwendigerweise der Produktion als eine Funktion des
Profits untergeordnet ist.
Das Paradoxe ist, dass der Kapitalismus die gesellschaftliche
Reproduktion benötigt, aber die Kosten dafür nicht bezahlen will – vor
allem weil alle Aktivitäten der gesellschaftlichen Reproduktion eine
niedrige Technologie aufweisen und arbeitsintensiv sind, was bedeutet,
dass sie kostspielig sind. Die Art und Weise, mit der es die
Kapitalisten (und die Staaten) schaffen, diese Kosten so niedrig wie
möglich zu halten, variiert, aber wir können einige gemeinsame Merkmale
feststellen: die Zunahme schlecht bezahlter Arbeit von Migrantinnen im
privaten Sektor (bspw. bei der Betreuung von Kindern und alten
Menschen); die Kürzungen bei den Sozialausgaben und sozialen
Dienstleistungen, die Frauen zwingen, diese Arbeit unentgeltlich zu
Hause zu leisten; die Kommerzialisierung der profitabelsten Aspekte von
Arbeiten gesellschaftlicher Reproduktion in Restaurants, Wäschereien
usw., wobei einmal mehr billige migrantische Arbeit verwendet wird.
Klassenausbeutung und Unterdrückung von Geschlecht und Ethnie bilden im Kapitalismus also eine komplexe Totalität.
Es gibt noch weit mehr über diese Prozesse zu sagen. Die Theorie der gesellschaftlichen Reproduktion erklärt nicht alles, aber sie liefert uns Werkzeuge, sodass wir erkennen können, wie augenscheinlich miteinander unverbundene Phänomene sich in einen Kontext gesellschaftlicher Produktions- und Reproduktionsverhältnisse fügen, die Menschen bedrücken, ihre verfügbaren Optionen drastisch verringern und unser Leben organisieren und beschränken.