Christian Zeller
Österreich ist um eine groteske Episode reicher. Weder starke soziale Bewegungen noch eine wirksame parlamentarische Opposition, sondern die Dummheit und Skrupellosigkeit eines Teils des Regierungspersonals hat dieser ÖVP-FPÖ-Regierung ein plötzliches Ende beschert. Nun öffnet sich ein Fenster zum Aufbau einer Wahlplattform, der ich vorläufig den Namen Solidarität und Klimagerechtigkeit gebe.
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Ein Video, das zeigt, dass das Führungspersonal der FPÖ bereit ist, seine Dienste unterschiedlichen Kapitaleigentümer*innen anzubieten, hat eine Regierungskrise in Österreich ausgelöst. Die veröffentlichten Videosequenzen offenbaren, dass politische Interessensvertretung zur Ware wurde und Käuflichkeit daher normal zu sein scheint. Allerdings ist zu bedenken, dass alle etablierten Parteien große „Spenden“ von Unternehmen erhalten. Noch immer will die ÖVP nicht offenlegen, mit welchen „Beihilfen“ sie die offiziellen Obergrenzen des Wahlkampfs 2017 um etwa das doppelte überschritten hat. Das Video und die nachfolgenden Erklärungen der Herren Strache, Kickl und Kurz sind allerdings auch Ausdruck der moralischen Verkommenheit eines Großteils des Politpersonals. Wir werden von Zyniker*innen und Technokrat*innen der Macht regiert. Zugleich macht Bundeskanzler Kurz klar, dass er seine national-konservativen Gegenreformen systematisch weitertreiben will. Sein Programm ist klar: Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der großen Konzerne, weitere Flexibilisierung der Arbeit, Abschaffung der sozialstaatlichen Errungenschaften, Zerstörung gesellschaftlicher Infrastruktur, Verschlechterung der Lebenssituation vieler Frauen bei formaler Gleichstellungsrhetorik, Spaltung der Bevölkerung, rassistische Ausgrenzung von Migrant*innen und zunehmend autoritäre Formen der Herrschaft.
Die SPÖ ist weder willens noch in der Lage mit einer sozialen und ökologischen Perspektive eine gesellschaftliche Opposition gegen diesen Kurs aufzubauen. Auch sie richtet sich auf die Wettbewerbsfähigkeit der Konzerne aus, will diese aber etwas sozial abfedern. Die Führung der SPÖ bietet sich Kurz unterwürfig als Koalitionspartnerin an. Die Grünen sind im Aufwind und versuchen die Klimabewegung für ihre Zwecke zu nutzen. Sie wollen sich als Kraft der ökologischen Modernisierung eines grünen Kapitalismus profilieren. Doch gerade ihre Umweltpolitik ist zutiefst unglaubwürdig, denn Klimaschutz und Kapitalwachstum sind unvereinbar.
Krise der Repräsentation
Die Situation in Österreich ist von einer Krise der Repräsentation gekennzeichnet. Weite Teile der Bevölkerung sehen sich durch die herkömmliche Politik und in den Institutionen nicht vertreten. Das gilt ganz besonders für die Menschen, die seit rund einem Jahr mit den Donnerstagsdemonstrationen, in der antirassistischen Bewegung und in der Klimabewegung ihren Unmut mit der Situation aktiv und lautstark bekunden. Die reformorientierten kapitalismuskritischen und die antikapitalistischen Kräfte sind parlamentarisch nicht vertreten. Österreich ist in dieser Hinsicht eine der wenigen Ausnahmen in Europa. Diese bereits Jahrzehnte andauernde Situation ist endlich zu beenden.
Nach der Ankündigung von Neuwahlen für Mitte September werden sich die herrschenden Kräfte in den kommenden Tagen und Wochen neu sortieren und ihren Wahlkampf eröffnen. Die SPÖ und die Grünen schlagen keine grundlegend anderen Perspektiven vor. Die Herausforderung des Klimawandels beantworten sie mit Untätigkeit oder unwirksamen Vorschlägen.
Die Entschlossenheit der führenden Kräfte der großen Kapitalgruppen den Kurs von Kanzler Kurz fortzusetzen, ist nicht zu unterschätzen. Eine Kurswende ist nicht in Sicht, umso weniger als die SPÖ sich bereits wieder als verlässliche Partnerin für die Herrschenden anbietet. Die SPÖ zögert sogar den Misstrauensantrag gegen Bundeskanzler Kurz zu unterstützen. Diese mit Unfähigkeit gepaarte Orientierung der SPÖ, aber auch der Grünen, wird vielen Menschen gerade in diesen Wochen bewusst und verstärkt die allgemeine Ratlosigkeit.
Kurzes Zeitfenster
Mit der Regierungskrise und der Ankündigung von Neuwahlen im September 2019 eröffnet sich nun das erste Mal seit mehreren Jahren ein Fenster zur Neuformierung einer breiten bewegungsorientierten und kapitalismuskritischen Kraft. Gerade die jüngsten Ereignisse offenbaren vor dem Hintergrund der Enttäuschungen der letzten Jahre und Monate, dass viele Menschen sich nicht ansatzweise durch die bestehenden Parteien repräsentiert sehen. Der Widerstand gegen das bürgerliche Eliten-Programm hat mit der Aufkündigung des Regierungsbündnisses von ÖVP und FPÖ unverhofft neue Möglichkeiten erhalten.
Bei der Nationalratswahl 2017 gab es keine sozialen Bewegungen und in der Gesellschaft artikulierte sich kein Widerstand. Die Wahl im Oktober 2017 brachte das befürchtete Ergebnis. Es gab keine glaubwürdige Wahlalternative. Jetzt ist die Situation anders. Hundertrausende von Menschen haben insgesamt an der vom ÖGB organisierten Demonstration gegen den 12-Stunden-Tag am 30. Juni 2018, den zahlreichen Donnerstagsdemonstrationen im ganzen Land, am Widerstand gegen Rassismus und an der Klimabewegung teilgenommen. Sie haben damit ihren Wunsch nach einem solidarischen und ökologischen Aufbruch tatkräftig ausgedrückt. Nun gilt es die Kräfte zu bündeln und dem Wunsch dieser Menschen nach einer konsequenten solidarischen und ökologischen Politik einen politischen Ausdruck zu verleihen.
Darum ist auszuprobieren, wie sich die Menschen in den verschiedenen sozialen Bewegungen in die Formierung und den Aufbau einer Wahlplattform Solidarität und Klimagerechtigkeit einbringen können. Ich nennen das Projekt Solidarität und Klimagerechtigkeit, weil diese beiden Begriffe, prägnant genau das ausdrücken, worum es geht. Es geht um umfassende gesellschaftliche Solidarität bei globaler Klimagerechtigkeit. Diese beiden Begriffe sollten mit einer alternativen gesellschaftlichen Perspektive konkretisiert werden. Eine solche Wahlplattform Solidarität und Klimagerechtigkeit könnte dazu beitragen, die Karten neu zu mischen und ein neues Spiel zu eröffnen. Im Rahmen des Formierungsprozesses würden die Beteiligten den endgültigen Namen bestimmen.
Zeitdruck vereinfacht Sachlage
Der enorme Zeitdruck macht die Situation gegenwärtig sehr einfach. Die Frage lautet: Sind die Menschen, die sich an den genannten Bewegungen beteiligen, gewillt sich auf einem einfachen, kurzen und prägnanten Programm zusammenzuraufen. Damit würde es möglich der Bevölkerung endlich zu zeigen, dass es jenseits der etablierten Parteien, die den Wettbewerbskurs entweder vorantreiben beziehungsweise diesen sozial oder grün abfedern wollen, Kräfte gibt, die für eine solidarische und ökologische Alternative einstehen.
Keine der bestehenden Organisationen und Parteien ist in der Lage, ein solches Projekt alleine voranzubringen, niemand kann einen Führungsanspruch stellen. Der Zeitdruck zwingt uns dazu, uns zu entscheiden: Wagen wir den Schritt, ein gemeinsames Projekt zu beginnen, oder nicht? Springen wir in das kalte Wasser, oder nicht? Es gibt keine Aussicht auf Erfolg. Doch es gibt die begründete Chance, dass sich die politische Landschaft in dieser Phase etwas verändern lässt. Das wäre schon mehr, als in den letzten Jahren. Wir wissen nicht, wann sich das nächste Fenster auftut. Politische Prozesse entwickeln sich sprunghaft. Das erleben wir gerade jetzt.
Wenn es gelingt, in den nächsten Wochen in allen größeren Städten Österreichs offene Versammlungen einzuberufen, lässt sich eine Dynamik entfachen. Diese Dynamik ist erforderlich, um sich in kurzer Zeit auf ein politisches Kurzprogramm zu einigen und die erforderlichen Unterstützungsunterschriften zu sammeln. Parallel könnte ein Unterstützungsaufruf von unterschiedlichen öffentlichen Personen und Aktivist*innen dem Projekt zusätzlichen Schub verleihen. Findet die Wahl am 15. September statt, müssten die 2600 Unterstützungserklärungen bereits bis spätestens Mitte Juli eingereicht werden. Das ist eine extrem kurze Frist.
An lokalen und österreichweiten offenen Versammlungen diskutieren die Teilnehmenden zunächst über die Grundzüge einer Wahlplattform. Anschließend werden in jedem Bundesland und österreichweit die Kandidat*innen für die Nationalratswahl gewählt.
Um offen und dynamisch zu werden, sind drei einfache Prinzipien zu beachten.
- Das Wahlprojekt versammelt und vereinigt Personen, ist also kein Kartell von Organisationen. Allerdings sind alle Organisationen, die sich einbringen wollen, selbstverständlich eingeladen, sich aktiv zu beteiligen und mit ihren Kompetenz das Vorhaben zu stärken.
- Das Wahlprojekt steht allen offen, die sich auf einer klaren politischen Plattform für gesellschaftliche Solidarität und umfassende Klimagerechtigkeit einsetzen.
- Das Wahlprojekt einigt sich auf ein einfaches politisches Programm und ist im Rahmen dieses Konsenses pluralistisch. Das heißt, die beteiligten Personen können sich in politischen Strömungen zusammenzuschließen und offen für ihre Inhalte werben.
Politische Orientierung
Mit dieser Vorgehensweise erarbeitet die Wahlplattform Solidarität und Klimagerechtigkeit bis Ende Juli ein Wahlprogramm, das sich an folgenden Inhalten orientiert.
- Für die sofortige Rücknahme aller unsozialen, frauendiskriminierenden, rassistischen und umweltfeindlichen Beschlüsse der ÖVP-FPÖ-Regierung.
- Für umfassende demokratische und soziale Rechte aller in Österreich lebenden Menschen. Für wirksame Maßnahmen gegen jede Form rassistischer Diskriminierung.
- Für ein System der sozialen Sicherheit, das niemanden in die Armut abdrängt und zu schlechten Jobs zwingt, von denen man nicht leben kann. Anstatt die Mindestsicherung durch eine almosenhafte Sozialhilfe zu ersetzen und die Notstandshilfe abzuschaffen, ist die Arbeitslosenversicherung auszubauen. Die Krankenversicherungen sind der umfassenden demokratischen Kontrolle der Beschäftigten und Versicherten zu unterstellen. Ihre Leistungen sind nach oben zu harmonisieren. Ein umfassendes System der sozialen Sicherheit und eine gute soziale Infrastruktur in der Bildung, Gesundheit und Pflege sind erforderlich, um Geschlechtergerechtigkeit zu erreichen.
- Für die Rücknahme der Verlängerung und Flexibilisierung der Arbeitszeit als ersten Schritt zu einer massiven Verkürzung der allgemeinen Arbeitszeit auf 30 Stunden in der Woche und 6 Stunden am Tag. Mit der Arbeitszeitverkürzung erhalten die Lohnabhängigen endlich ihren Anteil an den Produktivitätsgewinnen und zwar in Form von mehr freier Zeit. Eine radikale Arbeitszeitverkürzung ist eine wichtige Voraussetzung für Geschlechtergerechtigkeit, eine Neuverteilung der bezahlten und nicht bezahlten Arbeiten sowie einen ökologischen Umbau der Wirtschaft.
- Für eine soziale Steuerreform, Besteuerung der großen Vermögen, stärkere Besteuerung sehr hoher Einkommen und Einführung einer Erbschaftssteuer.
- Für die Errichtung kommunaler Wohnbauunternehmen unter der Kontrolle der lokalen Einwohner*innen. Für die Überführung der Immobilienunternehmen in öffentliches und kommunales Eigentum unter Kontrolle der Beschäftigten und der Bewohner*innen.
- Für die massive Reduktion der Rüstungsausgaben, den ökologischen Rückbau und schließlich Abbau der Rüstungsindustrie. Auf die Anschaffung neuer Waffensysteme ist zu verzichten.
- Für die sofortige und massive Reduktion der CO2– und anderen Treibhausgasemissionen. Bis 2030 müssen die Emissionen um mindestens 60% gegenüber 1990 gesenkt werden. Das ist Voraussetzung um eine kleine Chance zu haben, die Erwärmung auf 1,5°C zu begrenzen. Um ansatzweise klimagerecht zu handeln, muss die Emissionsreduktion sogar stärker ausfallen. Die Energieproduktion, die industrielle Produktion, die Landwirtschaft, die bauliche Infrastruktur und das Verkehrswesens sind umgehend umzubauen, um die CO2-Emissionen gemäß dieser Vorgabe zu reduzieren. Die Beschäftigten und die lokale Bevölkerung sind aktiv in diesen Umbau einzubeziehen. Dieser sozial-ökologische Umbau darf nicht zulasten der Beschäftigten und der Armen gehen.
Hebel ansetzen und Bewegungen stärken
Eine breitere kapitalismuskritische und reformerische Kraft kann dazu beitragen, politische Räume zu öffnen. Die Existenz der Partei DIE LINKE in Deutschland oder von Podemos in Spanien behindert den neoliberalen und reaktionären Durchmarsch. Diese breiten reformorientierten Parteien können den Organisierungsprozessen an der Basis durchaus behilflich sein. Die Debatte über die Enteignung von Immobilienkonzernen in Deutschland zeigt das. Die Forderung wurde von Bewegungsaktivist*innen in Berlin vorangetrieben und erzielt nun mit dem Volksbegehren ein breites Echo. Die Partei Die LINKE übernimmt diese Forderung. Damit ist es gelungen, den breiten gesellschaftlichen Diskurs deutlich in Richtung emanzipatorischer Kapitalismuskritik zu verschieben. Das eröffnet antikapitalistischen und ökosozialistischen Kräften neue Spielräume.
Die nationalkonservative Offensive mit ihrem antisozialen und antiökologischen Programm lässt sich nur durch den organisierten Widerstand an der Basis der Gesellschaft und durch die organisierten Lohnabhängigen in den Betrieben stoppen. In diesen alltäglichen Auseinandersetzungen und Kämpfen entstehen auch die Ansätze für gesellschaftliche Alternativen. Die Entstehung einer erfolgreichen Wahlplattform kann wiederum der Selbstaktivität in Bewegungen, sei dies im Betrieb, an der Uni, an der Schule und anderswo in der Gesellschaft förderlich sein, wenn sie sich in den Dienst der Bewegungen stellt und dazu beiträgt den öffentlichen Diskurs hin zu den Anliegen dieser Bewegungen zu verschieben.
Gerade in diesen Tagen und Wochen entwickeln sich die politischen Abläufe sprunghaft. Das sind Momente, in denen sich mit einem geschickten Einsatz eines Hebels eine Hebelwirkung erzeugen lässt, die uns Gewichte verschieben lässt. Entscheidend ist, dass die leichte Desorientierung der herrschenden Kräfte genutzt wird, um ihre angekratzte Glaubwürdigkeit weiter zu untergraben. Die Donnerstagsdemonstrationen, die Klimabewegung, die Bewegung „Gleicher Lohn für Gleiche Arbeit“ unter Beschäftigten in den Wiener Krankenhäusern, die unterschiedlichen antirassistischen Initiativen und die feministischen Diskussionen um das Projekt eines breit abstützten Frauenstreiks können dazu beitragen, das Kräfteverhältnis wirklich zu verändern Unmittelbar gilt es die Kräfte dieser Bewegungen zu bündeln, um der antisozialen und umweltfeindlichen Kanzlerschaft von Kurz ein Ende zu bereiten. Starke Mobilisierungen auf der Straße würden auch die Gewerkschaften und die SPÖ unter Druck setzen, ihre Lähmung zu überwinden.