Heute, 5. Dezember 2019, fand in Frankreich ein stark befolgter landesweiter Streik im öffentlichen Dienst statt. Die Mobilisierungen waren enorm. Gemäß Innenministerium beteiligten sich mehr als 806’000 Menschen an den Demonstration. Die Gewerkschaft CGT berichtete von 1,5 Millionen TeilnehmerInnen. Grund ist die geplante Rentenreform der Regierung Macron, die zu massiven Einschnitten für verschiedene Berufsgruppen führen würde.[1] Die Regierung will die «Reform» im Sommer 2020, nach den Kommunalwahlen im März, beschließen. Der heutige Streik hat das Potenzial, die verschiedenen sozialen Bewegungen in Frankreich zu bündeln. Die heutige Mobilisierung zeigt, dass weite Teile der Bevölkerung eine große Wut und einen richtigen Hass gegen den Präsidenten und die Regierung verspüren. Nun kommt es darauf, ob es den Streikenden gelingt, ihre Bewegung selber zu kontrollieren und weiterzuführen. In vielen Betrieben haben die Beschäftigten in Plenumsversammlungen beschlossen, den Streik morgen fortzusetzen. Die Gewerkschaft CGT will ihrerseits die Kontrolle über die Bewegung festigen und mag es nicht, wenn die Streikenden ihre Bewegung selber führen. Wir publizieren ein Interview mit Bernard Schmid in Paris, das die Sozialistische Zeitung allerdings bereits rund zweiWochen vor dem Streikbeginn führte. Wir werden in den nächsten Tagen aktuelle Berichte veröffentlichen. (Red.)
Interview mit Bernard Schmid*;
aus sozonline.de
Sozialistische Zeitung: Von außen betrachtet bietet Frankreich ein Bild, als sei da mächtig Druck im Kessel. Es gab einen Eisenbahnerstreik, bei Protesten gegen ein Staudammprojekt kam ein Student zu Tode, es gab ein rechtsextremes Attentat auf eine Moschee, die Gelbwesten haben ihren 1. Jahrestag gefeiert und am 5. Dezember 2019 wollen vier Gewerkschaftsverbände den öffentlichen Dienst lahmlegen.[2] Wie siehst du die Situation?
Bernard Schmid: Du hast bereits prägnant einige wichtige Ereignisse oder Weichenstellungen der letzten Monate benannt. Zu nennen wäre die Demonstrationen zum 5. Jahrestag des Todes von Rémi Fraisse, ein 21 Jahre junger Demonstrant, der gegen das im November dieses Jahres aufgegebene Staudammprojekt in Sivens demonstriert hatte. Er starb in der Nacht vom 25. zum 26. Oktober 2014 durch eine Polizeigranate, die ihn in den Rücken traf. Er war der erste Demonstrationstote in Frankreich seit dem berühmt gewordenen Todesfall von Malik Oussekine im Dezember 1986 in Paris.
Allerdings ist der Tod von Rémi Fraisse in der öffentlichen Meinung derzeit nicht sehr präsent, da man bei Polizeigewalt eher an jüngere Ereignisse denkt, vor allem an die massive polizeiliche Repression, die monatelang die Proteste der – politisch heterogenen – Gelbwestenbewegung begleitete. 1000 Verletzte, darunter 25 durch Gummigeschosse verlorene Augen, 3000 Verurteilungen (mit 1000 Haftstrafen), eine Tote durch polizeiliches Handeln – am 1.Dezember 2018 wurde die 81-jährige Anwohnerin Zineb Redouane in Marseille durch zwei Tränengasgranaten tödlich verletzt… Die Liste ist lang.
Der Jahrestag des Beginns der Gelbwestenproteste, den diese Bewegung am Wochenende des 16./17. November 2019 beging, war jedoch kein wirklicher Mobilisierungserfolg, rund 30’000 Demonstrierende folgten in ganz Frankreich dem Aufruf. Es war ein Geburtstag, jedoch keine Wiedergeburt. Es stellt sich daher die Frage, ob sich die damals neuartige Dynamik inzwischen erschöpft hat.
Eine Delegiertenversammlung, die vor allem die progressiven Teile der uneinheitlich zusammengesetzten Protestbewegung repräsentiert, beschloss Anfang November in Montpellier, den gewerkschaftlichen Streik- und Aktionstag am 5. Dezember 2019 zu unterstützen. Dem widersetzen sich zwar manche Protagonisten innerhalb der Gelbwestenbewegung wie Faouzi Melliou, die im Namen der Autonomie ihrer Bewegung auf einem deutlichen Abstand zu den Gewerkschaften beharrt. Es ist jedoch damit zu rechnen, dass viele Protestierende in gelben Westen zu den Demonstrationen am 5. Dezember 2019 erscheinen werden. Bei diesen Demonstrationen geht es um die Rentenreform, also die xte rückschrittliche Reform des Rentensystems seit der Reform Balladur (1993), dem gescheiterten «Plan Juppé» (1995), sowie der Reformen von 2003, 2010 und 2014. Alle diese sog. Reformen, mit Ausnahme des durch massive Streiks im öffentlichen Dienst verhinderten «Plans Juppé» 1995, haben jeweils die Lebensarbeitszeit verlängert.
Hat Macron noch eine Mehrheit hinter sich?
Emmanuel Macron hatte noch nie eine Mehrheit hinter sich! Gewählt wurde er ja dank der Tatsache, dass er am 7. Mai 2017 als einziger Gegenkandidat zur Neofaschistin Marine Le Pen in die Stichwahl kam. Rund 60 Prozent seiner WählerInnen in der Stichwahl stimmten keineswegs für ihn, sondern hauptsächlich oder ausschließlich gegen Le Pen.
Das Macron-Lager würde im Übrigen diese Situation gar zu gerne fortschreiben, und den Verweis auf die rechtsextreme Bedrohung – die natürlich real existiert – permanent als eigene politische Lebensversicherung einsetzen. Warum sonst facht Macron seit September dieses Jahres erneut die «Einwanderungsdebatte» an, lässt am 7. Oktober 2019 in der Nationalversammlung und am 9. Oktober 2019 im Senat eigens eine Aussprache zu diesem Thema organisieren, bevor seine Regierung dann am 6. November 2019 neue Restriktionen im Ausländer- und Asylrecht verkündet?
Die wichtigste innenpolitische Polarisierungslinie soll permanent aufs Neue zwischen dem Regierungslager und der extremen Rechten platziert werden. Vor dem Hintergrund der jüngsten «Debatte» hat sicherlich auch Claude Sinké, der 84jährige Attentäter gegen die Moschee in Bayonne und frühere rechtsextreme Kandidat bei den Bezirksparlamentswahlen 2015, seinen Tatentschluss gefasst.
Ansonsten zeigen die Umfragen in den letzten Monaten permanent ein Stimmungsbild mit etwa einem Drittel Zufriedenen und zwei Dritteln Unzufriedenen mit Emmanuel Macrons Amtsführung. Diese Proportion ist im Wesentlichen seit Beginn seiner Präsidentschaft stabil geblieben – mit Ausnahme einiger weniger Wochen «Gnadenfrist» ganz zu Anfang seiner Amtszeit.
Nur im Dezember 2018 war ein starker Ausschlag nach unten zu verzeichnen. Im Zuge der «Gelbwestenkrise» fiel die Quote der sich «zufrieden» Äußernden auf nur noch rund 20 Prozent. Danach kletterte ihr Anteil bis im Frühjahr 2019 wieder auf rund 30 Prozent.
Dabei saugt das Macron-Lager vor allem das Stimmenpotenzial der konservativen Opposition auf, also der von den Mandaten in den beiden Parlamentskammern her (wohl nicht mehr vom gesellschaftlichen Einfluss her) stärksten Oppositionspartei Les Républicains (LR). 2017 hatte Macron noch von der Ablehnung der beiden herkömmlichen Establishmentparteien, Sozialdemokratie und Konservative, profitiert. Nunmehr hat ein bedeutender Teil des zuletzt genannten Lagers sich ihm jedoch angeschlossen und mit der Macron-Mehrheit einen Block geschmiedet – das ergibt eine parlamentarische, aber keine gesellschaftliche Mehrheit.
Seit Monaten gibt es Bemühungen, die Bewegung der Gelbwesten und die Mobilisierungen der Gewerkschaften zusammenzuführen. Welche Erfolge konnten hier erzielt werden?
Wie erwähnt hat die «Versammlung der Versammlungen» der Gelbwesten
[eine Konferenz von Delegierten der Basisgruppen; die vierte ihrer Art
nach denen von Commercy im Januar 2019, in Saint-Nazaire Anfang April
2019 sowie in Montceau-les-Mines Ende Juni 2019]
Anfang November 2019 in Montpellier beschlossen, den Streiktag am 5. Dezember 2019 zu unterstützen. Schon früher hat es eine gemeinsame Mobilisierung zu einem Streiktag am 5. Februar dieses Jahres gegeben, zu dem die CGT die Initiative ergriffen hatten, um nach den Protesten der Gelbwesten – auf die Macron am 10. Dezember 2018 mit einem Milliardenpaket reagiert hatte – Lohnerhöhungen und ein gerechteres Steuersystem für Lohnabhängige zu fordern. Tatsächlich waren die Demonstrationszüge im Februar 2019 etwa in Paris gelb, orange (die Farbe der gewerkschaftlichen Neonjacken) und rot – wie die Fahnen der CGT – gesprenkelt.
Eine Minderheit der Gelbwesten lehnt die Gewerkschaften jedoch als «Teil des Establishments» ab. Unter den Gelbwesten befinden sich Lohnabhängige, Erwerbslose, RentnerInnen ebenso wie KleinunternehmerInnen und zornige Mittelständler – es gibt also neben politischen auch soziale Unterschiede in ihren Reihen.
Zeichnen sich Ansätze zur Bildung von Basisstrukturen ab, die nicht mehr nur Teilprobleme aufs Korn nehmen, sondern Vorstellungen für eine gemeinsame zentrale politische Mobilisierung entwickeln?
Das wird vielerorts versucht, das ist die Aufgabe von klassenkämpferischen Linken in allen sozialen Bewegungen! 1995 ist dies im Zusammenhang mit der damaligen Streikbewegung ganz gut gelungen, und auch 2006 im Kampf um die Verteidigung des Kündigungsschutzes (CPE). Seitdem erheblich weniger. Aber der Dezember 2019 könnte einen neuen Einschnitt mit sich bringen.
Wie wird der 5. Dezember vorbereitet? Könnte er zum Kristallisationspunkt für den Unmut in der Gesellschaft werden?
Ja, das könnte er tatsächlich! Das Regierungslager zeigt sich auch beunruhigt über die möglichen Folgen des 5. Dezember. Derzeit läuft es auf rohen Eiern, was Ankündigungen zur Rentenreform betrifft. Mal erklärt die Regierung, die Reform werde ab 2020 für die abhängig Beschäftigten – mit den üblichen Übergangsregelungen für die nächsten Jahre – in Kraft treten. Dann wieder sagt Premierminister Edouard Philippe, man könne daran denken, alle bis 1963 geborenen Jahrgänge aus der Reform auszuklammern. Dann wiederum wird öffentlich angekündigt, es könnten nur Lohnabhängige betroffen sein, die ab jetzt überhaupt in ein Arbeitsverhältnis treten – die also in dreißig bis vierzig Jahren Rente beziehen.
Die Regierung will die Lage wohl beruhigen, um die Proteste zu besänftigen, tatsächlich scheint sie jedoch reale Sorgen vor einer Ausweitung der Proteste zu haben. Aufgerufen wird ja zu einem unbefristeten Streik, mit Schwerpunkt in den Verkehrsbetrieben, über dessen Fortführung die Streikenden an der Basis alle 24 Stunden in Versammlungen entscheiden. Diese Form des Streiks (grève reconductible) wird von den Regierenden am meisten gefürchtet.
Welche Rolle spielt der Rassemblement National (RN) in dieser Situation? Versucht er, auf die Bewegungen Einfluss zu nehmen?
Das versucht er tatsächlich immer. Obwohl die neofaschistische Partei in ihrem Kern gewerkschaftsfeindlich ist, gibt es mittlerweile einen demagogischen Aufruf von Marine Le Pen zur Unterstützung der Proteste am 5. Dezember 2019. Die CGT jedenfalls weist ihn jedoch zurück.[3]
Was die Gelbwesten betrifft, so hat sich die organisierte extreme Rechte mittlerweile (außer auf örtlicher Ebene) eindeutig aus der aktiven Protestbewegung zurückzogen. Aus ihrer Sicht wurde es zu unübersichtlich, zu unordentlich, zu gewalttätig, zu viel mit Linken durchmischt usw.
Überdies haben es die organisierten Rechten nicht geschafft, die Gelbwesten als solche zu einer Antieinwanderungsbewegung umzuformen, was sie vor allem vor dem Hintergrund der Debatten um den «Pakt für Migrantenrechte» angestrebt hatten, den die meisten europäischen Regierungen am 10. Dezember 2018 in Marrakesch unter der Ägide der UNO unterzeichneten.
Nun stellt sich der RN außerhalb der verbliebenen Gelbwestenbewegung – und stattdessen im wahlpolitischen Raum – auf, pappt sich aber das Etikett der (vormaligen, angeblichen oder z.T. auch tatsächlichen) Teilnahme seiner Mitglieder an dem heterogenen Protest an, um sich zum «wahren Erben der Anliegen der ursprünglichen Protestierer» aufzuschwingen. Die jetzt Protestierenden unterstützt er nicht.
*Bernard Schmid ist Aktivist der Nouveau Parti Anticapitaliste
(NPA) und schreibt regelmässig für die Sozialistische Zeitung in
Deutschland. Das vorliegende Interview wurde durch die Redaktion leicht
bearbeitet und mit Fussnoten ergänzt.
[1] Das gesetzliche Renteneintrittsalter liegt in Frankreich bei 62 Jahren – allerdings nur, wenn man vorher 41,5 Jahre in die Rentenkasse eingezahlt hat. Das ist die Anzahl der Beitragsjahre, die für eine volle Rente erforderlich sind. Die Regelung gilt für Männer und Frauen gleichermaßen. Hat jemand nicht den gesamten Zeitraum in die Rentenkasse eingezahlt, kann er mit vollen Bezügen erst ab 67 in Rente gehen. Diese Regelung gilt ab 2023. Neben dieser allgemeinen Regelung gibt es nach wie vor Sonderregelungen für rund 100 Berufsgruppen. So können etwa Lokführer, Beschäftigte des staatlichen Stromriesen EDF und andere staatliche Bedienstete vielfach schon ab 55 Jahren in Rente gehen. 42 verschiedene staatliche Pflichtversicherungen will Macron nun in einer einzigen Rentenkasse «bündeln», d.h. die Sonderregelungen abschaffen. Eisenbahner, Pilotinnen, Ärzte, Krankenpflegerinnen und Anwälte haben gegen dieses Vorhaben bereits in den vergangenen Monaten – jeweils einzeln – gestreikt.
[2] Im Oktober beschossen die folgenden vier Gewerkschaften, am 5. Dezember 2019 einen «ersten berufsgruppenübergreifenden Streiktag» zu organisieren: 1. CGT – der historisch älteste der fünf staatlich anerkannten Gewerkschaftsdachverbände und noch immer relativ kämpferische Verband; 2. die Union syndicale Solidaires – ein nicht offiziell als Dachverband anerkannter Zusammenschluss linker und linksalternativer Basisgewerkschaften, die meist unter der Bezeichnung SUD firmieren; 3. die FSU – ein Zusammenschluss von Gewerkschaften im Bildungswesen; 4. Force Ouvrière (FO) – der drittstärkste Dachverband unter den französischen Gewerkschaften.
Wenige Wochen zuvor hatten fünf Gewerkschaften beim Pariser Nahverkehrsbetreiber RATP geschlossen für dasselbe Datum zum «unbefristeten» Streik im Nahverkehr aufgerufen; ihnen schloss sich am 24. September 2019 die Eisenbahngewerkschaft von Solidaires, die Branchengewerkschaft SUD Rail, an. Am 11. Oktober 2019 kam die CGT-Branchengewerkschaft im öffentlichen Dienst, CGT services publics, hinzu, deren Führung deutlich links und kämpferisch ist. Durch dieses Zusammenkommen erhält der geplante Arbeitskampf nun einen anderen, über den Transportsektor hinausreichenden Charakter und wird zum echten sozialpolitischen Kräftemessen mit der Regierung.
[3] Bereits in den 1990er Jahren versuchte sich der damalige Front National verstärkt im gesellschaftlichen Leben als eine Art „soziale Bewegung“ zu verankern und nicht nur an Wahltagen auf dem Stimmzettel präsent zu sein, etwa mit der Gründung eigener „Gewerkschaften“. Solche Ableger des FN entstanden erstmals 1995, doch ein Grundsatzurteil des Obersten Gerichtshofs (Kassationshofs) im April 1998 verbot ihnen, sich selbst als Gewerkschaften zu bezeichnen. Die Partei bemühte sich um außerinstitutionelle Aktivitäten, mit deren Hilfe die soziale Unzufriedenheit kanalisiert und mobilisiert werden könnte. Insofern konnte man sie als wirkliche Keimzelle einer faschistischen Bewegung bezeichnen, auch wenn gerade der Bewegungscharakter (angesichts der vergleichsweise geringen Mitgliederzahlen in den rechtsextremen Pseudo-Gewerkschaften oder Arbeitslosenfronten, verglichen mit „echten“ sozialen Organisationen) noch keineswegs ausgereift war. An eine Kontrolle der Straße oder der Betriebe durch eine rechte und autoritäre Massenbewegung, die es erlauben würde, von „marschierendem Faschismus“ zu sprechen, war damals wie heute jedoch nicht zu denken. Aber die Zustimmung auf der Ebene von Wahlen, gekoppelt an diese ersten Ansätze einer Bewegung außerhalb bürgerlicher Institutionen, hatte erstmals in den 1990er Jahren ein bedenkliches Niveau erreicht. Bislang dominiert allerdings die Ausrichtung auf Wahlen und auf Stimmerfolge die Strategie des FN. Siehe Artikel auf sozialismus.ch.