Sich häufende Umweltkatastrophen, mehrere „Jahrhundertsommer“ pro Jahrzehnt, die Anreicherung von Plastikpartikeln in den Nahrungsketten und das sich beschleunigende Artensterben zeigen: Die ökologische Krise ist Realität. In seinen dreizehn Thesen legt Michael Löwy dar, dass eine Lösung nicht innerhalb des kapitalistischen Systems möglich ist, dass der Aufbau einer ökosozialistischen Alternative dringend nötig ist und warum Fatalismus unangebracht ist. (Red.)
von Michael Löwy*;
aus sozialismus.ch
These 1
Die ökologische Krise ist bereits die wichtigste soziale und politische Frage des 21. Jahrhunderts und wird in den nächsten Monaten und Jahren noch wichtiger werden. Die Zukunft dieses Planeten und damit der Menschheit wird in den nächsten Jahrzehnten entschieden werden. Die Berechnungen und Prognosen einiger Wissenschaftler*innen für das Jahr 2100 sind aus zwei Gründen nicht besonders nützlich: a) wissenschaftlich: da es bei vielen Rückkopplungseffekten unmöglich ist, sie zu berechnen, sind Prognosen hundert Jahre in die Zukunft riskant; b) politisch: am Ende dieses Jahrhunderts werden wir alle, unsere Kinder und Enkelkinder tot sein – wen kümmert, was in hundert Jahren ist?
These 2
Die ökologische Krise hat viele Facetten, die alle gefährliche Konsequenzen haben werden, aber die Klimafrage ist zweifelsohne die dramatischste. Der Weltklimarat IPCC erklärt, dass wenn die globale Durchschnittstemperatur um 1,5° gegenüber der vorindustriellen Zeit ansteigt, sich Klimawandelprozesse mit unumkehrbaren Folgen einstellen werden. Was wären die Folgen? Einige wenige Beispiele: eine massive Zunahme von Grossbränden wie dem in Australien 2020; die Austrocknung von Flussbetten und Verwüstung weiter Landstriche; das Schmelzen und Verschwinden der polaren Eisschilde und der damit verbundene Anstieg des Meeresspiegels, der mehrere Meter betragen könnte. Bei gerade mal zwei Metern würden weite Regionen Bangladeschs, Indiens und Thailands, wie auch die wichtigsten Städte der menschlichen Zivilisation – Hongkong, Kalkutta, Venedig, Amsterdam, Shanghai, London, New York, Rio – vom Meer verschlungen. Wie stark können die Temperaturen ansteigen? Ab welcher Temperatur wird menschliches Leben auf diesem Planeten unmöglich sein? Niemand hat eine Antwort auf diese Fragen.
These 3
Dies sind die Risiken einer Katastrophe, die es so in der Geschichte der Menschheit noch nie gegeben hat. Um ähnliche klimatische Bedingungen zu finden, wie sie in Zukunft durch den Klimawandel entstehen werden, müssen wir bis ins Pliozän vor einigen Millionen Jahren zurückgehen. Die meisten Geologen glauben, dass wir in eine neue geologische Ära, das Anthropozän, eingetreten sind, in der die wichtigste den Zustand des Planeten ändernde Kraft menschliches Handeln ist. Welches Handeln? Der Klimawandel begann mit der industriellen Revolution des 18. Jahrhunderts, aber erst nach 1945, mit der neoliberalen Globalisierung, machte er einen qualitativen Sprung. Mit anderen Worten, es ist die moderne industrielle kapitalistische Zivilisation, die für die Anreicherung von CO2 in der Atmosphäre und damit für die globale Erwärmung verantwortlich ist.
These 4
Dass das kapitalistische System für die drohende Katastrophe verantwortlich ist, wird allgemein anerkannt. In der Enzyklika Laudato Si prangerte Papst Franziskus, ohne das Wort „Kapitalismus“ zu benutzen, ein strukturell abartiges, ausschliesslich auf dem „Prinzip der Gewinnmaximierung“ fussendes Handels- und Eigentumssystem als verantwortlich für soziale Ungerechtigkeit und die Zerstörung unseres gemeinsamen Hauses, der Natur, an. Eine bei ökologischen Demonstrationen auf der ganzen Welt gerufene Parole ist „System Change not Climate Change!“ Die Haltung der Repräsentant*innen und Unterstützer*innen dieses Systems, Advokat*innen des business as usual – Milliardär*innen, Bankiers, „Expert*innen“, Oligarch*innen, Politiker*innen –, lässt sich mit der Aussage „Nach mir die Sintflut!“ zusammenfassen.
These 5
Die systemische Natur des Problems wird auf grausame Weise durch das Verhalten der Regierungen veranschaulicht, die alle (mit äusserst seltenen Ausnahmen) im Dienste der Kapitalakkumulation, der multinationalen Unternehmen, der fossilen Oligarchie, der allgemeinen Kommodifizierung [«Zur-Ware-Werdens», Anm. d. Red.] und des Freihandels stehen. Einige – Donald Trump, Jair Bolsonaro, Scott Morrison (Australien) – treten offen umweltzerstörerisch und den Klimawandel leugnend auf. Die Anderen, die „Vernünftigen“, geben den Ton bei den jährlichen COP-Konferenzen (Conference of the Parties) an, die sich durch eine vage „grüne“ Rhetorik und absolute Trägheit auszeichnen. Die erfolgreichste dieser Konferenzen war die COP21 in Paris 2015, die mit feierlichen Versprechen aller teilnehmenden Regierungen endete, ihre Emissionen zu reduzieren – und an die sich bis auf wenige pazifische Inseln niemand gehalten hat. Wissenschaftler*innen haben berechnet, dass die globale Durchschnittstemperatur selbst mit der Einhaltung sämtlicher Versprechen um 3,3° oder mehr steigen würde…
These 6
„Grüner Kapitalismus“, „Emissionsmärkte“, „Ausgleichsmechanismen“ und andere Massnahmen der „nachhaltigen Marktwirtschaft“ haben sich als unwirksam herausgestellt. Während mit aller Macht allem ein grüner Anstrich verpasst wird, steigen die Emissionen weiter und die Katastrophe rückt immer näher. Es kann im Rahmen des Kapitalismus, einem System, das gänzlich dem Produktivismus, dem Konsumismus, dem erbarmungslosen Kampf um „Marktanteile“, der Kapitalakkumulation und der Profitmaximierung verschrieben ist, keine Lösung für die ökologische Krise geben. Die ihm eigene perverse Logik führt unweigerlich zur Zerstörung ökologischer Gleichgewichte und zum Zusammenbruch ganzer Ökosysteme.
These 7
Die einzigen Alternativen, die in der Lage sind, die Katastrophe abzuwenden, müssen radikal sein. „Radikal“ bedeutet, das Problem an der Wurzel anzupacken. Wenn die Wurzel das kapitalistische System ist, brauchen wir gegen das System gerichtete, also antikapitalistische Alternativen wie den Ökosozialismus, einen ökologischen Sozialismus, der den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht wird. Andere Alternativen wie der Ökofeminismus, die Sozialökologie Murray Bookchins, die politische Ökologie von André Gorz oder die Post-Wachstums-Ökonomie haben viel mit dem Ökosozialismus gemeinsam: in den letzten Jahren gab es vielfältige wechselseitige Beeinflussungen.
These 8
Was ist Sozialismus? Für viele Marxist*innen ist es die Veränderung der Produktionsverhältnisse [gesellschaftliche Eigentumsverhältnisse; Anm. d. Red.] durch die kollektive Aneignung der Produktionsmittel [Rohstoffe, Werkzeuge, Maschinen etc.; Anm. d. Red.], um die freie Entfaltung der Produktivkräfte [natürliche, technische, organisatorische und geistig-wissenschaftliche Ressourcen im Produktionsprozess; Anm. d. Red.] zu ermöglichen. Der Ökosozialismus bezieht sich auf Marx, bricht aber ausdrücklich mit diesem produktivistischen Modell. Natürlich ist die kollektive Aneignung unerlässlich, aber auch die Produktivkräfte selbst sollten radikal umgewandelt werden: a) durch die Umstellung der Energieproduktion (erneuerbare statt fossile Brennstoffe); b) durch die Verringerung des Gesamtenergieverbrauchs; c) durch die Verringerung der Güterproduktion und die Beseitigung nutzloser (Werbung) und schädlicher Wirtschaftszweige (Pestizide, Kriegswaffen); d) durch den Verzicht auf geplante Obsoleszenz [Strategie, in der das Veralten eines Produktes vom Hersteller geplant ist; Anm. d. Red.]. Der Ökosozialismus impliziert auch die Veränderung von Konsummustern, Verkehrsformen, Stadtplanung und „Lebensstilen“. Kurz gesagt, es ist viel mehr als eine Veränderung der Eigentumsformen: es ist ein zivilisatorischer Wandel, der auf den Werten der Solidarität, der Gleichheit und des Respekts vor der Natur beruht. Die ökosozialistische Zivilisation bricht mit dem Produktivismus und dem Konsumismus, um sich auf die Verkürzung der Arbeitszeit und damit die Ausweitung der Freizeit für soziale, politische, spielerische, künstlerische, erotische Aktivitäten usw. zu konzentrieren. Marx nannte dieses Ziel die „Herrschaft der Freiheit“.
These 9
Der Übergang zum Ökosozialismus erfordert eine demokratische Planung, die sich an zwei Kriterien orientiert: die Befriedigung tatsächlicher Bedürfnisse und die Achtung des ökologischen Gleichgewichts des Planeten. Es sind die Menschen selbst – wenn sie erst einmal den Hype und die Konsumbesessenheit, die der kapitalistische Markt erzeugt hat, losgeworden sind –, die demokratisch entscheiden werden, was die wirklichen Bedürfnisse sind. Der Ökosozialismus ist eine Herausforderung der demokratischen Rationalität der Arbeiter*innenklasse.
These 10
Teilreformen reichen nicht aus, um das ökosozialistische Projekt zu verwirklichen. Eine echte soziale Revolution wäre notwendig. Wie definiert man diese Revolution? Man könnte auf eine Anmerkung von Walter Benjamin zu seinen Thesen zum Geschichtsbild (1940) verweisen: „Marx sagte, dass Revolutionen die Lokomotive der Weltgeschichte sind. Vielleicht sind die Dinge anders. Es kann sein, dass Revolutionen der Akt sind, mit dem die im Zug fahrende Menschheit die Notbremse zieht“. Übersetzt in die Begriffe des 21. Jahrhunderts: Wir sind alle Passagiere in einem Selbstmord-Zug, der sich moderne industrielle kapitalistische Zivilisation nennt. Dieser Zug nähert sich mit zunehmender Geschwindigkeit einem katastrophalen Abgrund: dem Klimawandel. Revolutionäre Aktionen zielen darauf ab, ihn zu stoppen – bevor es zu spät ist.
These 11
Der Ökosozialismus ist sowohl ein Projekt für die Zukunft als auch eine Strategie für das Hier und Jetzt. Es geht nicht darum, abzuwarten, bis „die Bedingungen reif“ sind: Es ist notwendig, eine Konvergenz zwischen den sozialen und ökologischen Kämpfen herbeizuführen und gegen die destruktivsten Initiativen der Mächte im Dienste des Kapitals zu kämpfen. Dies ist es, was Naomi Klein Blockadia nannte. Gerade bei solchen Mobilisierungen können antikapitalistisches Bewusstsein und Interesse am Ökosozialismus in den Kämpfen entstehen. Vorschläge wie der Green New Deal sind in ihren radikaleren Formen, die den Verzicht auf fossile Energieträger fordern, Teil dieses Kampfes – aber nicht in jenen Formen, die sich auf einen neuen Anlauf für einen „grünen Kapitalismus“ beschränken.
These 12
Wer ist das Subjekt dieses Kampfes? Der dogmatische Fokus auf Arbeiter*innen und Industrie des letzten Jahrhunderts ist heute nicht mehr aktuell. Die Kräfte, die heute an der Frontlinie der Konfrontation stehen, sind junge Menschen, Frauen, Indigene und Bäuer*innen. Frauen sind in der gewaltigen Jugendklimabewegung, der durch den Appell von Greta Thunberg ausgelöst wurde, sehr präsent – eine der grossen Quellen der Hoffnung für die Zukunft. Wie die Ökofeministinnen erklären, ist diese massive Beteiligung von Frauen an den Mobilisierungen das Ergebnis der Tatsache, dass sie die ersten Opfer der ökologischen Schäden des Systems sind. Auch die Gewerkschaften beginnen, sich hier und da zu engagieren. Dies ist wichtig, weil das System letztlich nicht ohne die aktive Beteiligung der städtischen und ländlichen Arbeiter*innen, die die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen, besiegt werden kann. Die wichtigste Voraussetzung ist, in jeder Bewegung ökologische Ziele (Schliessung von Kohlebergwerken, Ölquellen oder Wärmekraftwerken usw.) mit einer Beschäftigungsgarantie für die betroffenen Arbeiter*innen zu verbinden.
These 13
Haben wir eine Chance, diesen Kampf zu gewinnen, bevor es zu spät ist? Im Gegensatz zu den sogenannten „Kollapsologen“, die laut und deutlich verkünden, dass die Katastrophe unvermeidlich und jeder Widerstand zwecklos ist, glauben wir, dass die Zukunft offen ist. Es gibt keine Garantie dafür, dass diese Zukunft ökosozialistisch sein wird: Sie ist Gegenstand einer pascalschen Wette, bei der man alle seine Kräfte in einer „Anstrengung für das Ungewisse“ einsetzt. Aber, wie Bertolt Brecht mit grosser wie einfacher Weisheit sagte: „Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat bereits verloren.“
*Michael Löwy ist ein bekannter ökosozialistischer Theoretiker aus Frankreich, Mitglied der Nouveau Parti Anticapitaliste und Autor des vielfach übersetzten Buches «Ökosozialismus. Die radikale Alternative zur ökologischen und kapitalistischen Katastrophe.» Übersetzung des Artikels durch die Redaktion.
Diese Thesen sind zuerst auf Michael Löwys Blog auf Mediapart und auf „Europe Solidaire Sans Frontières“ veröffentlicht worden.
„XIII Thèses sur la catastrophe (ecologique) imminente et les moyens de l’éviter“, https://blogs.mediapart.fr/michael-lowy/blog/230120/xiii-theses-sur-la-catastrophe-ecologique-imminente-et-les-moyens-de-leviter (23. Januar 2020).
„XIII Thèses sur la catastrophe (ecologique) imminente et les moyens (révolutionnaires) de l’éviter“, http://www.europe-solidaire.org/spip.php?article51885 (23. Januar 2020).
„XIII thèses sur la catastrophe (ecologique) imminente et les moyens (révolutionnaires) de l’éviter“, in: Inprecor. Correspondance de presse internationale, Paris, Nr. 670/671, März/April 2020, S. 51/52.
Übersetzung ins Englische:
„Thirteen theses on the imminent ecological catastrophe and the (revolutionary) means of averting it“,
International Viewpoint 541, Februar 2020, http://www.internationalviewpoint.org/spip.php?article6391.
„XIII theses on the imminent ecological catastrophe and the (revolutionary) means of averting it“, http://www.globalecosocialistnetwork.net/2020/02/11/xiii-theses-on-the-imminent-ecological-catastrophe-and-the-revolutionary-means-of-averting-it/ (11. Februar 2020).
Übersetzungen ins Deutsche:
13 Thesen zur drohenden Katastrophe und den revolutionären Massnahmen dagegen