Der deutsche Aktienindex hat vom 19. Februar bis zum 18. März 2020 40% verloren. Er sackte von 13789 auf 8334 Punkte ab. Das kommt einer gigantischen Vernichtung fiktiven Kapitals gleich. Seit Tagen überschlagen sich die Meldungen über Betriebsschließungen und Entlassungen. Wir erleben den Beginn einer großen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Krise. Die Corona-Pandemie stürzt die Unternehmen und die Staaten in arge wirtschaftliche Schwierigkeiten. Die sich spätestens seit 2018 abzeichnende Krise wird zu massiven ökonomischen Turbulenzen sowie sozialen und politischen Verwerfungen führen. Die Verursacher*innen – die Kapitalist*innen, Zentralbanken und Regierungen dieser Welt – werden alles dafür tun, die Kosten wie schon 2007/08 auf die lohnabhängige Bevölkerung abzuwälzen. Wir täten gut daran, uns auf dieses Szenario einzustellen und eine Antwort von unten vorzubereiten. (Red.)
von Rémi Grumel | aus npa2009.org, 13. März 2020
In seiner Fernsehansprache zum Coronavirus vom Donnerstag, 12. März 2020, sagte der französische Präsident Emmanuel Macron: «Wir werden nicht zulassen, dass sich eine Finanz- und Wirtschaftskrise ausbreitet.». In der Tat ist dies noch vor allen gesundheitlichen Fragen die aktuelle Hauptsorge der Regierungen: Die Coronavirus-Epidemie hat ab Ende Februar an den wichtigsten Börsenplätzen der Welt (CAC 40, Dow Jones, London Stock Exchange, Nasdaq, Euronext, Nikkei…) einen deutlichen Rückgang der Aktienkurse – der Eigentumstitel der Unternehmen – ausgelöst. Die Pariser Börse (CAC 40) verzeichnete an diesem besagten Donnerstag, dem 12. März, mit einem Wertverlust von 12,28% den schlimmsten Handelstag in ihrer Geschichte seit dem 6. Oktober 2008 während der Subprime-Krise.
Mit einem Rückgang der Börsenindizes [1] (Dow Jones, S&P-500, Nasdaq) um fast 10% in New York erlebte die Wall Street ihren schlimmsten Tag seit dem Crash von 1987. Die Mailänder Börse (FTSE Mib) stürzte um -16,92% ab. Um diesen Absturz zu interpretieren, soll zuerst erläutert werden, was Börsen und Aktien in der kapitalistischen Produktionsmaschine für eine Rolle spielen.
Aktien sind die Eigentumstitel der Unternehmen. Wenn ich eine Aktie besitze, dann besitze ich sozusagen ein Stück dieser Firma, ein Stück ihres Kapitals. Im Gegenzug zahlt mir das Unternehmen eine Dividende, die Teil des Mehrwerts ist, der durch die Ausbeutung der Arbeitskraft entsteht. Die Aktie ist daher ein «Bezugsrecht» des von den Lohnabhängigen geschaffenen Mehrwerts. Wenn ein Unternehmen investieren muss, kann es seine Aktien emittieren, sodass die Finanzkapitalist*innen (Banken, Investmentfonds…) und andere Nicht-Finanzunternehmen die Aktien auf dem «Primärmarkt» (dem Markt, auf dem Unternehmen ihre Aktien ausgeben) kaufen können. Das Geld aus diesem Kauf geht also an das Unternehmen zurück, das somit befähigt wird Investitionen zu tätigen.
«Fiktives Kapital»
Aber sobald diese Operation durchgeführt wurde, werden die Aktien auf dem «Sekundärmarkt» gehandelt, und ihr Preis (der Börsenkurs) kann je nach dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage variieren, ohne direkt von der Kapitalrendite abzuhängen, die die Aktien darstellen. Deshalb bezeichnete Karl Marx Aktien an der Börse als «fiktives Kapital», das den Eindruck vermittelt, dass es ausserhalb der Produktion von realen Werten im Produktionsprozess von sich aus einen Mehrwert schaffen kann (wenn sein Kurs steigt). Das fiktive Kapital ermöglicht also zunächst die Finanzierung von Investitionen und wird dann zu einem Spekulationsmittel.
Wenn diese Preise Spitzenwerte erreichen und die Spekulant*innen allmählich erkennen, dass sie der realen Rentabilität nicht entsprechen (Spekulationsblase), kann ein störendes Ereignis die Preise zum Einsturz bringen und Panik auslösen: Die Aktionär*innen verkaufen massiv ihre Aktien, aber niemand ist da, um sie zurückzukaufen. Ihr Preis (Börsenkurs) fällt daher drastisch.
Nehmen wir den CAC40: Dies ist ein Börsenindex, der auf der Entwicklung der Aktienkurse der 40 wichtigsten französischen Unternehmen basiert. Der jüngste Rückgang, der stärkste in so kurzer Zeit [2] (29% in weniger als einem Monat) seit der Krise 2007-2008, folgt auf einen deutlichen Anstieg seit 2012.
Dieser Anstieg der Aktienkurse seit 2012 erklärt sich insbesondere dadurch, dass die Geldmenge, die seit 2008 von den Zentralbanken zur Abfederung der Auswirkungen der Krise ausgegeben wurde, mehr für die Spekulation an den Aktienmärkten als für Investitionen in den Produktionsapparat genutzt wurde, der auch heute noch keine ausreichende Rentabilität (Profitrate) für die Kapitalist*innen aufweist. Einzeln erzielen die Aktionär*innen einen «fiktiven Gewinn», indem sie teurere Aktien, die sie billiger gekauft haben, weiterverkaufen. Dabei wurde aber kein neuer Wert geschaffen, da es sich, wie wir gesehen haben, um fiktives Kapital handelt.
Vorspiel einer grossen Krise
Im Gegensatz zu dem, was einige BFM-Business-Redakteure sagen, sind weder der Rückgang der Ölpreise noch das Coronavirus die Hauptursache für diesen Börseneinbruch. Sie sind nur die Zünder, da sie in einem Kontext stehen, in dem die Aktien bereits «überbewertet» waren, wie in den Perioden vor den beiden letzten Krisen.[3]
Der Crash ist nicht nur eine vorübergehende «Korrektur», sondern der Auftakt zu einer grossen Krise, die sich zusammenbraut, die selbst von den internationalen Finanzinstitutionen seit einigen Monaten erwartet und befürchtet wird. Wie wir im vergangenen Oktober dargelegt haben, war auch die Instabilität des Repo-Zinssatzes [4] über Nacht ein Zeichen der Krise. Das Coronavirus könnte das Ende eines Zyklus signalisieren, der die Widersprüche, die zur Krise von 2007-2008 geführt haben, nur noch verschärft hat: Auch wenn Börsencrashs nicht immer zu tiefen Krisen im Kapitalismus führen müssen, ist es sehr wahrscheinlich, dass der aktuelle Absturz uns direkt in eine globale Rezession führt und starke Auswirkungen auf die «Realwirtschaft» hat, indem er zum Beispiel die Probleme der Überschuldung von Unternehmen enthüllt.
In diesem Zusammenhang kann die Intervention der Zentralbanken durch die Senkung der Leitzinsen [5] bestenfalls den Effekt einer Gasböe in einem zerrissenen Heissluftballon haben. Jeder Schub kann den Ballon vorübergehend anheben, aber einerseits vergrössert er den Riss, indem er ihn aufbläst, und andererseits ist im Tank des Ballonkorbes nicht mehr viel Gas vorhanden: Denn die Leitzinsen der Zentralbanken sind bereits sehr niedrig. Die Mitteilung der EZB-Präsidentin Christine Lagarde, die sich an diesem besagten Donnerstag, dem 12. März, weigerte, ihren Leitzins zu senken, hat die Panik nur noch verstärkt, indem sie den Ball zurück an die Staaten schickte [damit diese Konjunkturprogramme aufgleisen; Anm. d. Red.]. Der haushaltspolitische Spielraum vieler Staaten ist allerdings ebenfalls nicht enorm gross.
Übersetzung durch die Redaktion von sozialismus.ch
[1] Börsenindizes geben den Wertzuwachs eines „Portfolios“, das aus den wichtigsten an der betreffenden Börse gehandelten Aktien besteht, an einem Tag an. Wenn der Prozentsatz dieses Index negativ ist, bedeutet dies, dass der Wert der meisten an der Börse gehandelten Aktien sinkt. [2] Der CAC 40-Index verlor zwischen dem 20. Februar und dem 11. März 22% seines Wertes. [3] Gemeint sind die Dotcom-Krise („Internetblase“) im Jahr 2000 und die Subprime-Krise 2007-2008. [4] Repo oder Rückkaufvereinbarung ist eine absurde Finanzspekulation, die den gleichzeitigen Verkauf und späteren Rückkauf eines Gutes (in der Regel eines Wertpapieres) kombiniert. Wenn die Repo-Zinsen stark variieren, ist das ein Anzeichen, dass sich die Händler*innen auf Turbulenzen einstellen und sich gegenseitig misstrauen. [5] Der Leitzinssatz einer Zentralbank ist der Satz, zu dem sie den Geschäftsbanken Geld zur Verfügung stellt. Je niedriger der Zinssatz ist, desto mehr Geld ist also im Umlauf, um Investitionen zu tätigen. Deshalb führt ein Rückgang der Leitzinsen vor dem Hintergrund der geringen Rentabilität produktiver Investitionen tendenziell zu einem Anstieg der Börsenwerte.