Von Jakob Schäfer
aus intersoz.org, 11.03.2020
Seit mehr als einem Jahr zeichnete sich ein Ende des langen Booms ab. Doch mit allerlei Gesundbeterei und Beschwichtigung hoffte man, den Ausbruch der Krise „umschiffen“ zu können. Jetzt, da die Aktienkurse abstürzen, versuchen die Apologeten des Kapitalismus den Ausbruch der Krise der Corona-Pandemie anzulasten.
Ohne Zweifel spielt die Corona-Pandemie eine gewisse Rolle, aber nur als aktueller Auslöser. Sie ist nicht der Grund für die einsetzende Krise, wiewohl sie in einzelnen Bereichen als zusätzlicher Faktor die Krise noch verschärfen wird (zurzeit ist dies auf jeden Fall für China und für Italien absehbar). Die Ursachen der ausbrechenden Krise liegen tiefer und sind systembedingt.
Nur „fünf Väter des Börsencrashs“?
Die Wirtschaftswoche schreibt, unter dem Titel „Die fünf Väter des Börsencrashs“: „Die Angstbarometer an den Börsen haben den höchsten Stand seit dem Finanzkrisencrash erreicht. Die Volatilitätsspitzen aus den Jahren 2010 und 2015 wurden bis zur Stunde (Montag, 9. März, nachmittags) um mehr als ein Fünftel übertroffen. […] Die Turbulenzen an den Börsen sind derzeit so heftig und brisant, weil sich mittlerweile eine gefährliche Mischung zusammenbraut.“
Zu den fünf Vätern des Börsenkrachs zählt die Wirtschaftswoche: a) die Corona-Pandemie, b) die Konjunkturkrise (die Wirtschaftswoche behauptet: „Noch bis vor wenigen Wochen gab es Anzeichen sowohl von volkswirtschaftlicher Seite als auch von den Unternehmen, dass die befürchtete Rezession umschifft werden könnte“), c) die „Transformationskrise“ (gemeint ist vor allem die Autoindustrie), d) „Turbulenzen bei Währungen, Rohstoffen und Schwellenländern“ und schließlich fünftens: e) „Die Abwärtsspirale an den Märkten entwickelt eine gefährliche Eigendynamik. Hier trifft es nicht nur Banken, denen in einer ohnehin wackligen Lage plötzlich wieder neue Abschreibungen drohen.“
Diese fünf Faktoren spielen zwar alle in die beginnende Krise hinein, aber erstens sind diese Faktoren hier nicht gewichtet und zweitens ist damit das Systemische völlig ausgeblendet, so als hätte ‒ mit entsprechenden Maßnahmen und ohne das Corona-Virus ‒ die Krise tatsächlich umschifft werden können.
Im Grunde wussten alle Bescheid
Dass man mit korrekter Wirtschaftspolitik eine Krise der kapitalistischen Wirtschaft vermeiden kann, meint auch die Süddeutsche Zeitung (SZ). Im August 2019 schrieb sie unter dem Titel: „Konjunktur: Es droht die nächste große Wirtschaftskrise ‒ und alle schauen zu“: „Sollte die Weltwirtschaft tatsächlich einbrechen, wäre es eine Rezession mit Ansage. Und die großen Nationen sind keinesfalls besser vorbereitet als 2008 ‒ im Gegenteil. […] 2020 könnte das Jahr der nächsten großen Wirtschaftskrise werden ‒ und anders als vor elf Jahren wissen diesmal alle seit Monaten Bescheid. Sollte es tatsächlich zum Einbruch kommen, wäre es die Krise mit der wohl längsten Vorwarnzeit, die es je gab, eine Rezession mit Ansage gewissermaßen, ein langsamer, freiwilliger Abstieg in die Schlangengrube.“
Doch auch ein breites Erkennen der Warnungen hätte nichts geändert, denn die Ursachen liegen in den Gesetzmäßigkeiten der Kapitalakkumulation. Dass der jetzt zu Ende gehende Boom überhaupt 10 Jahre lang anhielt, ist einigen außergewöhnlichen Faktoren geschuldet, vor allem dem gewaltigen Aufschwung der gelenkten chinesischen Volkswirtschaft und dem Reinholen der Krisenfolgen von 2009 in die Staatshaushalte, also die Vergesellschaftung der Verluste (nicht nur im Bankensektor) mittels massiver staatlicher Subventionen. Inzwischen aber ‒ international seit 2017 ‒ kommen die zwei entscheidenden Faktoren für das Heranreifen und den Ausbruch der kapitalistischen Krise wieder voll zum Tragen: Zum einen die Überakkumulation in entscheidenden Sektoren der Wirtschaft, wovon die Krise der Automobilindustrie nur ein zugespitzter Ausdruck ist; zum anderen die fehlende aggregierte Kaufkraft, also die der Endverbraucher sowie des Staates.
Doch auch ein breites Erkennen der Warnungen hätte nichts geändert, denn die Ursachen liegen in den Gesetzmäßigkeiten der Kapitalakkumulation.
Diese Grundkonstellation war nicht vermeidbar, denn die Einschränkung der privaten Kaufkraft mittels Niedriglöhnen, Prekarisierung usw. war schließlich überhaupt eines der wesentlichen Elemente für die Verlängerung des Konjunkturzyklus gewesen. Jetzt, da sich diese Elemente erschöpft haben, gibt es keine ausreichenden Möglichkeiten mehr, der Überakkumulation entgegenzuwirken. Auch die vorsichtigen keynesianischen Maßnahmen die inzwischen das DIW (abgeschwächt auch die SPD) fordert, kann daran nichts ändern, denn selbst der deutsche Staat hat nicht die ausreichenden Mittel, um dem entgegenzuwirken, von den schwindenden Absatzmöglichkeiten im Ausland noch ganz abgesehen.
Die Krise begann 2018/2019
International gehen die Anfänge der krisenhaften Entwicklung auf das Jahr 2017 zurück, was ganz nebenbei auch einer der entscheidenden Faktoren für den Handelskrieg war und immer noch ist, losgetreten vor allem von der US-Administration („America first“). Diese krisenhafte Entwicklung hat sich dann 2018 und vor allem 2019 auf weite Teile der Weltwirtschaft ausgedehnt. Starke Rückgänge des BIP-Wachstums gab es vor allem in China, aber auch in Japan, Frankreich, Deutschland usw. So ging beispielsweise die Automobilproduktion in Deutschland von Oktober 2018 auf Oktober 2019 um 14 Prozent zurück (Financial Times 6./7. Dez. 2019). Allein im letzten Quartal 2019 ging in Deutschland auch der Umsatz im Maschinen- und Anlagenbau zurück, nämlich um 4,4 %.
Krisenverschärfend ist auch das Auftauchen von wachsenden ökologischen und politischen Problemen. In der Automobilindustrie kamen zur Sättigung des Marktes und zur Überakkumulation noch der Dieselskandal hinzu wie auch der politische Druck (v. a. in China) zur Umstellung auf Elektroautos. An den damit verbundenen Transformationsschwierigkeiten ändern auch die staatlichen Kaufprämien nur wenig. Denn für die Bereitstellung der erforderlichen Infrastruktur (vor allem der Ladesäulen, aber auch ausreichender elektrischer Energie, von sauberer Energie noch ganz zu schweigen) wird auch dem Staat bald die Puste ausgehen.
Krisenverschärfend ist auch das Auftauchen von wachsenden ökologischen und politischen Problemen.
Nicht gerade hilfreich für die ungehinderte Kapitalverwertung waren und sind die politischen Konstellationen und die Maßnahmen zum Schutz der jeweiligen nationalen Wirtschaft. So hat die amerikanische Zentralbank, die „Fed“, jetzt ihren Leitzins gesenkt, um der anlaufenden Krise entgegenzuwirken. Aber der Effekt ist mehr als zweifelhaft, denn es zieht Geld aus den USA ab. Damit „ist die Rendite zehnjähriger amerikanischer Staatsanleihen auf den tiefsten Stand seit mehr als 100 Jahren gefallen. Dieser Absturz hat die Differenz zu den Renditen in Euroland (minus 0,73) erheblich schrumpfen lassen.“ (Wirtschaftswoche, a. a. O.)
Die dadurch entstehende Aufwertung des Euros hat negative Auswirkungen sowohl für die deutsche Exportindustrie wie auch für die Wirtschaft vieler Schwellenländer. Es könnte sich sogar wirklich eine Abwärtsspirale an den internationalen Währungsmärkten entwickeln.
Dass in diesem Zusammenhang die Krise der EU nicht gerade hilfreich ist, liegt auf der Hand. Das Kapital ist schließlich seinem Wesen nach um internationale Wirkungsmöglichkeit und nicht um Abschottung oder neue Zollbarrieren bemüht. (s. hierzu J. Schäfer, 5.1.2017 auf der Webseite der ISO)
Ölpreisentwicklung und Aktienkurse
Zu allem Überfluss kommt nun noch der Streit um die Ölförderung hinzu, deren Exponenten Saudi-Arabien und Russland den Konflikt anheizen. Kurzfristig bedeutet billigeres Öl zwar eine „Entlastung“ für die meisten Unternehmen (wenn wir von der amerikanischen Fracking-Industrie absehen), aber insgesamt wirkt der sinkende Ölpreis im Moment eher als Unsicherheitsfaktor.
Parallel dazu stellen wir fest, dass viele „institutionelle Anleger“ und nicht wenige Milliardäre seit Mitte/Ende Februar Aktienpakete verkaufen bzw. „rechtzeitig“ verkauft haben, was die Kurse nach unten drückte und immer noch drückt. Diese „Gewinnmitnahmen“ sind für diese Anleger ‒ in den letzten Wochen vorneweg Goldman Sachs, Vanguard, Black Rock, Bank of America und Citigroup ‒ das Natürlichste der Welt. Sie wussten, dass die Überbewertung vieler Aktien seit annähernd drei Jahren nicht ewig anhalten konnte. Zu weit hatten sich die Kurs-Gewinn-Verhältnisse von einem realistischen Maß entfernt. (in den letzten 10 Jahren wurden vor allem von Adidas, Beiersdorf, Telekom, Linde, Henkel, Merck usw. Spitzenwerte erreicht. Jetzt gehen die Finanzjongleure in die Staatsanleihen (einfach, weil diese sicherer sind).
Die Überbewertung vieler Aktien seit annähernd drei Jahren konnte nicht ewig anhalten.
Und als wäre all das noch nicht genug: Wir dürfen nicht übersehen, dass es in einigen Ländern eine beträchtliche Immobilienblase gibt (2009 war dies vor allem in Spanien der Fall). Heute sind neben China vor allem Schweden und Frankreich betroffen, in begrenztem Maß auch Deutschland.
Zur Erläuterung des aktuellen Ausmaßes: 2005 (dieses Jahr galt als „blasenfrei“) musste ein Käufer/eine Käuferin in München noch 27,5 Jahresmieten in den Kauf einer Mietwohnung investieren. 2019 waren es bereits 41,6 Jahresmieten. Wichtiger noch ist der Bezug auf das Jahresnettoeinkommen: 2005 lag dieser Wert in München bei dem 6,6fachen des Jahreseinkommens, im Jahr 2019 waren 12,5 Jahreseinkommen für den Kauf einer Wohnung erforderlich.
In zehn deutschen Großstädten ist die Blasengefahr hoch: Berlin, Bremen, Dresden, Düsseldorf, Essen, Frankfurt am Main, Hamburg, Köln, München, Stuttgart. Das DIW rechnet zwar mit einer Verlangsamung der Immobilienpreisentwicklung, aber wenn die Wirtschaftskrise durchschlägt, kann die vorhandene Immobilienblase sehr schnell zu einem zusätzlich verschärfenden Moment werden.
Ganze Länder vor dem Bankrott
In den letzten Tagen stand vor allem der Libanon wegen drohender Zahlungsunfähigkeit in den Schlagzeilen. Nicht viel besser sieht es aber im Iran aus und in der EU ist es vor allem Italien, das die Herrschenden zittern lässt. Dort hatte sich in den letzten fünf Jahren (und verschärft seit 2018) eine neue Bankenkrise abgezeichnet. Seit dem 10. März ist Italien wegen der Corona-Epidemie zur Sperrzone erklärt worden. Kommt es in diesem Zusammenhang zum Zusammenbruch auch nur einer einzigen halbwegs bedeutenden Bank, gerät das ganze italienische Bankensystem ins Wanken. (Die faulen Kredite italienischer Banken werden auf über 360 Mrd. € geschätzt, davon allein über 80 Mrd. bei der UniCredit.) Und da die Kredite international vergeben bzw. abgesichert sind, wird dies unmittelbar verheerende Auswirkungen auf die gesamte EU haben. Bei uns sind in dem Fall vor allem die Deutsche Bank und die Commerzbank stark betroffen. Sofort wird die Debatte neu entfacht werden, ob die EU (resp. EZB) eingreifen kann oder soll. Genau diese Art der Fragestellung hatte übrigens (damals wegen der Griechenlandkrise) maßgeblich zum Entstehen der AfD (Lucke) beigetragen und für den Auftrieb des Nationalismus gesorgt.
Im Vergleich zu 2009 gib es heute einen wesentlichen Unterschied: In vielen Ländern (Deutschland gehört erst in zweiter Linie dazu) verfügt der Staat aufgrund der damaligen Vergesellschaftung der Verluste im Bankensektor über deutlich weniger finanzielle Möglichkeiten, Banken und andere Unternehmen aus der Krise freizukaufen, indem er dort einsteigt und die Verluste übernimmt. Das engt den Handlungsspielraum ein und verschärft gleichzeitig den Druck auf die Lohnabhängigen, bei drohenden größeren Zusammenbrüchen dramatische Lohneinbußen hinzunehmen. Die Erleichterung von Kurzarbeit wird nur einen geringen Teil der zu erwartenden Schwierigkeiten abfangen.